Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
ihn überrennen würden, um ein Nachtquartier zu verlangen.
    Nur eine der großen Couturier-Boutiquen war geöffnet, die von Saint-Laurent, und an der niedrigen Buchsbaumrabatte, die den Vorplatz des Geschäfts vom Trottoir trennte, stand ein zierlicher Mann mit einem messerscharfen Schnurrbärtchen, ein Angestellter des Modehauses, und bot den Passanten gutgelaunt Petits Fours von einem Silbertablett an. Von irgendwoher aus der Menschenmenge schrie ein Witzbold: Vive la révolution!, und der zierliche Modeverkäufer, der sich offenbar angesprochen fühlte, rief zurück: Joyeuses Pâques! Der Amerikaner musste lachen. Dann waren sie an der Seine, und auf der Alma-Brücke, einem Engpass, wurde das Gedränge so groß, dass Cote und Hélène sich unwillkürlich bei der Hand nahmen, um nicht getrennt zu werden. Sie gingen dicht am Geländer, tief unter ihnen floss der Fluss, schwarz wie flüssiger Teer, dicke Flocken fielen an den Kandelabern vorüber und auf den Kopf und das steinerne Cape des Zouaven, dessen Füße die Wellen der hochfließenden Seine leckten.
    Der Nebel, der sich über den Fluss senkte und alle Horizonte der großen Totale verschwinden ließ, hob auch alle Gewissheiten über Distanzen und Größenverhältnisse auf. Es konnte sich ein ganzer Kosmos ausdehnen in der grauen wabernden Leere, es konnte auch
sein, dass das Inselchen von Sichtbarkeit alles war, was geblieben war von der Welt. Grünlich-silbern phosphoreszierende Dunkelheit und eine Schraffur aus weißen Horizontalen und schwarzen Vertikalen. Es war Abend geworden. Der Schneeregen fiel aus der Nebelwand, der Wind über dem Fluss peitschte ihn hin und her.
    Am Anleger der Bateaux-Mouches staute sich eine ständig wachsende Menschenmenge vor den hölzernen Bootsstegen, dann kanalisiert von einem mäandernden Labyrinth aus Eisengeländern, mit denen normalerweise bei Demonstrationen und Paraden und Radrennen die Straßenränder abgesperrt werden und das die Schlange der Wartenden ordnen sollte, bis hin zu der Straße, die an der Kaimauer entlangführte. Es mochten dreitausend Menschen sein, vielleicht mehr, und jeder verstärkte mit den weißen Wölkchen, die er bei jedem Ausatmen oder Satz ausstieß, den Nebel über der Stadt. Anzugträger mit Aktenkoffern traten fröstelnd von einem Fuß auf den andern, einige hatten ein Mobiltelefon am Ohr und sprachen hektisch darauf ein. Neben Hélène stand eine Frau in einem halblangen Rock mit schwarzer Lycrastrumpfhose darunter. Die Absätze ihrer von weißen Schneerändern verunzierten Schuhe versanken im Matsch. Um die Schulter trug sie eines jener ausgebeulten Täschchen, die eigentlich nur für ein Portemonnaie und einen Lippenstift gedacht sind und Tag für Tag mit dicken Terminkalendern, Aktenordnern und Zeitschriften vollgepfropft werden. Hélène und Cote redeten nicht viel. Sie schauten. Es gab so viel zu schauen, dass man vergaß zu warten. Auf ein Schiff, das Hélène nach Hause bringen würde, während der Amerikaner zurück zur Botschaft ginge.

    Nach einiger Zeit, die die Menschen in Notsituationen brauchen, um die Zumutung zu überwinden, in einer ahnungs- und hilflosen Menge zu stecken, entspannen sich erste Wortwechsel und Unterhaltungen zwischen den fremden Schicksalsgenossen. Woher, wohin? Und der Streik? Achselzucken, Lächeln. Man muss sie verstehen. Ja, und wer versteht uns? Unsereins ist immer der Gelackmeierte. Widersprüchliche Informationsströme flossen kreuz und quer durch die Wartenden: Das nächste Schiff kommt von Seine-abwärts und fährt Seine-aufwärts. Nein, umgekehrt. Man wird ja sehen, woher es kommt, und dementsprechend an Bord gehen. Nein, denn sie fahren eine Schleife hier, sie können also von rechts kommen und auch wieder nach rechts fahren. Ein Skandal, dass man hier nichts erfährt! Keine Organisation, typisch! Und die Polizei? Wo ist die Polizei, wenn man sie mal bräuchte?
    Ein einsamer Polizist, der für Ruhe und Ordnung sorgen sollte und dessen Gesichtsausdruck zu fragen schien, was er wohl unternehmen könnte, falls dreitausend Menschen sich gegen Ruhe und Ordnung entschieden, fühlte sich angesprochen und blickte seine Stiefelkappen an. Der Gummiknüppel an seinem Gürtel baumelte auf eine möglichst wenig herausfordernde Weise.
    Die Enge machte warm und gesprächig. Die ersten lauten Lacher waren zu hören. Maghrebinische und schwarze improvisierende Händler hatten rasch den neuen Markt gerochen. Ein schlaksiger Schwarzer mit grünen Wollhandschuhen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher