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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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der ein Kohlenbecken bis auf den Anleger geschoben hatte, bot den Frierenden laut rufend heiße Maronen an. Zwei Halbwüchsige schoben
sich mit Thermoskannen voll heißem Tee durch die Masse. Hélène erstand zwei Becher Pfefferminztee, und Cote kletterte über eines der Absperrgitter, um ihnen eine Portion Maronen zu kaufen, die in einer aus dem gestrigen Figaro gefalteten Tüte steckten.
    Dann, laut dröhnend und von überall und nirgends zugleich kommend, aus dem weißen Dunst, aus dem Fluss, aus der Erde steigend, das lang gehaltene Signal eines Nebelhorns, nach wenigen Sekunden wiederholt. Aller Augen gingen auf den Fluss, alle Gespräche verstummten, die Menge dehnte und kontrahierte sich wie ein schlagender Herzmuskel.
    Und dann begann der Nebel zu leuchten, und Tausende vom Schneeregen mit einem milchigen Hof umrahmte Lichter erschienen. Eines der großen, über hundert Meter langen Ausflugsschiffe glitt aus der Düsternis, kam längsseits des Anlegers und dockte mit einem gewaltigen, grollenden Rückwärtsschub der Motoren, der das Wasser am Heck aufquirlte, an, dass der Anleger ächzte.
    Die Gangways wurden herangerollt, ein Strom von Hunderten von Fahrgästen kam aus der gleißenden Helligkeit des Schiffsinnern. Währenddessen mussten die anderen weiter warten, direkt vor sich die glitzernde, vibrierende Jukebox der riesigen Notfähre. Bercy!, brüllte der Bootsmann an der Gangway schließlich mehrmals. Dieses Schiff fährt Richtung Bercy, und die Information wurde durch die Menge weitergegeben.
    Als die Schlange sich in Bewegung setzte, sahen Hélène und der Amerikaner einander an und umarmten sich wortlos. Hélène drückte ihr Gesicht gegen den nassen Mantelkragen Cotes. Der steckte seine Nase tief
in Hélènes Haar. So standen sie da, bis der Abstand zu den Vorderleuten zu groß wurde und ein Mann hinter ihnen in der Schlange murrte: He, morgen ist auch noch ein Tag!
    Hélène folgte den anderen an Bord, drehte sich immer wieder um und winkte, bis sie die Gangway hinauf und im Schiff war. Auch er winkte die ganze Zeit und kletterte dann über die Barriere, um aus der Warteschlange zu kommen. Er sah sie nicht mehr, aber sie sah ihn, nachdem sie einen Sitzplatz am Fenster gefunden und die Scheibe mit dem Ärmel freigewischt hatte. Er stand in der Menge, sein Blick ging an den Fenstern entlang hin und her, und er aß Maronen aus der Tüte.
    Dann musste Hélène einer gehbehinderten alten Dame helfen, sich neben sie zu setzen, während sie ihr die schwere Einkaufstasche hielt. Als sie wieder aus dem Fenster sah, war der Amerikaner in der Menge verschwunden.

K ommen wir noch einmal auf jenen Moment zurück, als der sterbende Marcello Mastroianni durch unseren Gesichtskreis schlurfte und unsere Aufmerksamkeit einige Sekunden lang bannte, meine, Hélènes und die des Amerikaners, sodass wir in unseren Bewegungen innehielten und für kurze Zeit ein Standbild, ein Stilleben wurden. Ich vor dem Empfangstresen, Hélène an der Ecke des Korridors, vom Aufzug kommend, der Amerikaner im Schatten der Gedenktafel für die Starr Foundation mit der Stutzuhr.
    Es war vielleicht für Hélène und mich ein erschütternderer Augenblick als für den Amerikaner, hatten wir doch viele seiner Filme gemeinsam gesehen, die neueren, Michalkows Yeux Noirs, Angelopoulos’ Apiculteur, Fellinis Ginger und Fred und Intervista oder Scolas Splendor, im Kino, die älteren im Fernsehen, vor allem Scolas Giornata Particolare . Ob Mastroianni auch für Amerikaner eine so mythische Gestalt ist wie für uns Europäer, weiß ich nicht, glaube es aber nicht.
    Und so hörte ich denn auch in diesen wenigen Sekunden, so klar und deutlich, als käme es vom Band und würde über Lautsprecher in die Krankenhauslobby gespielt, Anita Ekbergs Marcello! durch den Raum hallen, ihm hinterher, der es nicht hörte und im Korridor verschwand, ohne sich umzublicken. Ich sah ihn, als
sei eine weiße Leinwand von der Decke gelassen worden, während seine sterbliche Hülle im Bademantel so quälend langsam vorüberging, in der Fontana di Trevi, wie seine Hände zitternd das Allerheiligste, die Luft um Anita Ekbergs Körper, liebkosen und die beiden dreißig Jahre später, sie dick und vergnügt wie eine der Mammas aus Amarcord, er ein alter, schwer gewordener Clown in seiner Mandrake-Verkleidung; ich sah ihn auf dem Dach, wie er der in einem geblümten Schürzenkleid steckenden Sophia Loren half, die Wäsche aufzuhängen, während unten in der Straße
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