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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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D ahin
    dahin
    Wann immer ich an meine Jahre in Paris zurückdenke, schiebt sich dieses janusköpfige Wort, das zugleich die Trauer um einen unwiederbringlichen Verlust und die Sehnsucht nach einer unerreichbaren Ferne bezeichnet, vor meine Erinnerungen und verhindert, dass ich in sie eintauchen, in ihnen umhergehen kann. Dieses Dahin umgibt sie wie ein feiner Schleier aus Melancholie, und versuche ich ihn zu lüften, versetzt er mir einen Schmerz, der mich loslassen lässt.
    Dabei ist es kein stechender, kein bohrender, eher, wenn es so etwas gibt, ein sanfter Schmerz, und ich sage mir dann, das, was ich für einen Schleier halte, ist in Wahrheit ein Wundhäutchen, und risse ich es fort, begänne die Blutung wieder und wäre vielleicht nicht mehr zu stillen.
    Will ich beschreiben, wie dieses Dahin für mich klingt in seinem Doppelklang, dann fallen mir ein Gedicht und ein Chanson ein. Das Gedicht Meeresbrise von Mallarmé ist ein einziger weher, sehnlicher Aufschrei, ins Weite hinauszugelangen, fortzukommen, davonzukommen: Fliehen! Dahin! Fliehen!
    Und in Georges Brassens‘Lied von den Jungverliebten, deren Zuflucht vor der Welt und ihrer Moral die Parkbänke
sind, auf denen sie sich küssen, muss das Paar nach dem Ende des Rausches, wenn der Alltag eingekehrt ist, voller Nostalgie erkennen, dass die Zeit, in der es träumend und voller Zukunftshoffnung auf seiner Parkbank allen bürgerlichen Konventionen eine Nase drehte, dass die Zeit, in der es ungeduldig glaubte, das Eigentliche komme erst noch, selbst das Eigentliche, das beste Teil, der schönste Augenblick seiner Liebe gewesen ist, und der ist dahin, und alles Weitere ist nur noch Abstieg.
    Dem Neuankömmling scheint sich die Stadt zu öffnen - sie ist sein in all ihrer Faszination, er muss nur zugreifen. Aber um ein etwas abgegriffenes Bild zu gebrauchen: Sie öffnet sich ihm nur so, wie eine Frau auf dem gynäkologischen Stuhl sich dem Arzt öffnet; die Macht über ihren Körper ist rein funktional, bleibt äußerlich.
    Geht man irgendwann wieder fort, schließt der Sesam sich nahtlos, als habe er sich nie aufgetan, und man hat das Recht verwirkt, ihn noch einmal zu finden. Aber wer es versucht hat, wird zweifelnd vor der geschlossenen Wand stehen: Ist er der Stadt entkommen, oder ist er ihrer verwiesen worden? Denn die Seele von Paris, um deren Aufmerksamkeit, um deren Gunst man gebuhlt hat, ist erbarmungslos. Diese Metropole ist zu groß und zu alt für einen einzelnen Menschen.
    Das Leben in Paris ist ein Zeugen und Sterben unter dem saturnisch schweren, gleichmütigen Blick der alten Stadt. Man muss die Tragödie, die sie für einen bereithält, bis zur Neige durchleben. Wer sich ihr opfert, wer zum Humus wird, auf dem sie wächst, nur der darf sagen, sie gehöre ihm und er ihr. Wer ihr entkommt oder ihrer verwiesen wird wie ich, der nun schon lange wieder in
Deutschland lebt, dem bleibt für den Rest seines Lebens nur das schwermütige Dahin.
    Darum darf ich, will ich mich nach Paris zurückversetzen, nicht an mich denken, sondern muss mich an andere Menschen von damals erinnern. Zum Beispiel an Hélène.
    Sie war dreißig, als sie den Amerikaner zum ersten Mal sah. Das war im Herbst 1991, und es geschah im amerikanischen Hospital von Paris, das in Neuilly am Boulevard Victor Hugo liegt.
    Sie wartete in dem Raum gleich hinter der Rezeption, der wie die amerikanische Phantasie von einem Londoner Club in Holz und mit genoppten Ledersofas eingerichtet war. Davor, an den beigen, mit weißen Holzleisten in Rahmen und Kassetten unterteilten Wänden, hingen Ölgemälde der Gönner und Spender des Krankenhauses. Über der Tür war eine bronzene Dankestafel für die Starr Foundation mit eingearbeiteter Stutzuhr angebracht, daneben hing ein Foto aus den zwanziger Jahren, auf dem ein Automobil durch das schneebedeckte und von kahlen Bäumen gerahmte Portal des American Hospital rollt.
    Sie war ein wenig zu früh dran. Aus der rückwärtigen Terrassentür konnte sie in den weitläufigen Garten hinausblicken, bis zu den hinter Platanen halb verborgenen Nebengebäuden, nach vorn durch die geöffnete Tür war das typische Klinikgewimmel zu sehen, das am Empfang des American Hospital of Paris eher an die Rezeption eines Grand Hotels erinnerte.
    Schwarze Diplomaten im dreiteiligen Anzug eskortierten bunt gekleidete Frauen zum Empfangstresen, Golf-Araber in langen Gewändern und mit Aktenkoffern
telefonierten oder rauchten draußen vor der Glastür, weißgekleidete
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