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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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wenn du dir die Zeit nehmen willst, ist es, du gehst die Avenue des Gobelins hinunter und dann die Rue Monge weiter oder -.
    Ab der Rue Monge kenne ich mich wieder aus. Da kann ich auch über den Berg rüber und komme unten direkt bei Notre-Dame raus.
    Sie nickte.
    Ihre Wohnung zu betreten war seltsam für mich. Es war eine kleine Zweizimmerwohnung mit einer Küche, groß genug, darin zu essen. Einiges erkannte ich wieder, anderes war mir fremd und neu. Die Katzen schienen mich nicht wiederzuerkennen. Ich hatte das Gefühl, dass die Überbleibsel unseres gemeinsamen Lebens sich langsam auflösten und verschwanden, aber selbst das, was mir vertraut war, wirkte fremd in neuen Zusammenstellungen, von deren Zustandekommen ich nichts mehr wusste. Im Schlafzimmer hing noch Léonor Finis Katze über dem Bett, im Wohnzimmer stand noch das Eichenbüfett, das ihre Großmutter ihr zum dreißigsten Geburtstag
geschenkt hatte, darauf die Miniaturteekännchen, die ich von meinen Reisen nach Deutschland mitgebracht hatte. Aber vor allem die Stoffe, die Überwürfe, Kissen, Tagesdecken und Vorhänge waren neu. Auch manche Bilder. Auch die Fotos im Flur, die in den Spiegel gesteckt waren. Wir hatten nie Fotos in den Spiegel gesteckt.
    Zum Abendessen machte sie mir, weil sie wusste, dass ich das Gericht mochte, Endives au jambon, also Chicorée in Schinken gehüllt und überbacken. Ich deckte den Tisch, ich hatte Mühe, Teller und Besteck zu finden. Währenddessen unterhielten wir uns über die Arbeit. Sie legte Léo Ferré auf, frühe Lieder mit viel Akkordeon in der Begleitung. Das war der innigste, aber vielleicht auch schwierigste Moment des Abends. Auch bei einem Paar, das sich getrennt hat, selbst wenn es sich hasserfüllt getrennt hat, bleibt so ein gemeinsamer, ideeller Besitz in Form von Musik oder auch Orten, der nur ihm gehört und immer ihm gehören wird, auch wenn die beiden schon Jahre oder Jahrzehnte auseinander sind. Blaubartzimmer der Erinnerung, die der spätere Partner besser ungeöffnet lässt, er wird sie nie zu den seinen machen können. Ich war froh, als Hélène etwas anderes auflegte.
    Wie geht es deinem Amerikaner?, fragte ich.
    Gut, sagte sie.
    Hast du ihn öfter gesehen?, fragte ich.
    Ja, sagte sie.
    Ist er hier in Paris?, fragte ich.
    Nein, sagte sie. Aber ich habe gestern einen Brief von ihm bekommen. Sie deutete auf das Büfett.
    Kann ich sehen?, fragte ich vorsichtig.

    Sie nickte. Steht nichts Geheimnisvolles drin.
    Sie nahm das erste Blatt des Briefes vom Büfett, reichte es mir, und ich begann zu lesen.
    Fort Riley, KS, 2. Oktober 2000
    Liebe Hélène,
     
    nun sind es schon zwei Monate, dass ich wieder hier bin. Ich mache Schreibtischarbeit und versuche, so oft wie möglich raus in die Natur zu kommen. Das sind hier die Flint Hills. Ein wenig wie die Gorges du Corong in Guerlédan. Aber es kann natürlich nie dasselbe sein …
    Ich unterbrach die Lektüre. Was sind die Gorges du Corong?, fragte ich.
    Eine Heidelandschaft mit einer Schlucht und einem Wildbach in der Zentralbretagne, sagte Hélène.
    Ich nickte und las weiter.
    … eine Stelle als Englischlehrer an einem katholischen Collège oder Lycée in Frankreich zu kriegen, wird überhaupt kein Problem. Ein Job als Maître de Conférences an einer Provinz-Uni würde sich sehr viel schwieriger gestalten, und ich fürchte, dafür habe ich die letzten zwanzig Jahre auch nicht genug getan. Von heute an gerechnet, ist es übrigens auf den Tag genau noch ein Jahr, bis meine zwanzigjährige Dienstzeit bei vollen Pensions- und Rentenansprüchen zu Ende ist, und das werde ich auch noch absitzen können.

    Natürlich sind sie alle hinter mir her, noch ein paar Jahre dranzuhängen, um dann vielleicht als General in Pension gehen zu können, mein Vater, die Kollegen, einige Vorgesetzte, die mir Hoffnungen machen. Aber ich habe abgewinkt. Dieser Teil meines Lebens ist Ende September nächsten Jahres endgültig vorüber. Und ich wüsste nichts auf der Welt, was mich von diesem Entschluss abbringen könnte. Denn alles, was ich will
    Hier endete das Blatt, das sie mir gegeben hatte. Ich faltete es zusammen und legte es wieder aufs Büfett zu dem zweiten. Gegen zehn Uhr abends verabschiedete ich mich und ging zurück ins Hotel. Ich ging die Rue Bobillot bis zur Place d’Italie, von dort die Avenue des Gobelins hinunter, die Rue Mouffetard hinauf und von der Place Contrescarpe über die Rue Descartes und die Rue de la Montagne Sainte-Geneviève, den Boulevard
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