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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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Ärzte und Pfleger mit Stethoskop in der Brusttasche über dem Namensschild huschten vorüber, ihre gesenkten Augen verrieten die Furcht davor, angesprochen und aufgehalten zu werden. Junge weibliche Krankenhausangestellte, die wie Messe-Hostessen aussahen, stöckelten stakkato den Korridor entlang. Nasebohrende Kinder auf Besuch betrachteten die historischen Schwarzweißfotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, auf denen Rotkreuzschwestern mit Häubchen und Invaliden an Krücken zuversichtlich lächelnd vor Krankenwagen mit hölzernen Radspeichen posierten, im Hintergrund der zweiflüglige Bau, der heute noch das Zentrum des Krankenhauses bildet, damals aber das einzige Gebäude gewesen war.
    Hélène muss im Türrahmen des Clubraums gestanden haben, als vor ihr im Korridor ein Mann zusammenbrach. Er stürzte zu Boden und zitterte unkontrolliert. Sie hatte ihn weder kommen sehen noch sonst wahrgenommen, aber nun lag er direkt vor ihren Füßen, auf der Seite, zusammengekrümmt, die Hände zu Fäusten geballt und krampfartig zuckend, als durchliefen ihn elektrische Schocks.
    Die Vorübergehenden drehten den Kopf nach der Szene oder wandten ihn auch ab, aber Hélène kniete sich ohne zu zögern neben den Mann, umfasste seinen Oberkörper von hinten mit den Armen und versuchte ihn umzudrehen oder festzuhalten oder aufzurichten, sie wusste selbst nicht was. Das Ohr nah an seinem Kopf mit dem kurzen braunen Haar hörte sie ihn etwas murmeln. Horror, war das Einzige, was sie verstand. Sobald
der Mann, dessen Gesicht sie noch immer nicht gesehen hatte, ihren Körper spürte, löste seine rechte Hand sich von dem Krawattenknoten, an dem sie gerissen hatte, griff nach hinten über die Schulter und klammerte sich an sie. Das heißt, er umfasste mit schmerzhaftem Griff ihren Oberarm, als halte er sich im Fallen an einem Ast oder Vorsprung fest oder wolle seine Hand mit Gewalt dazu bringen, mit dem unkontrollierten Zittern aufzuhören.
    Mit aufsteigender Panik, denn sie vermutete einen Infarkt oder einen epileptischen Anfall und wusste nicht, was sie tun sollte, das Einzige, was ihr einfiel, war, dass man Epileptikern ein Stück Holz in den Mund steckt, damit sie sich nicht die Zunge durchbeißen, versuchte sie, den Oberkörper des Mannes ein wenig hochzuziehen. Der Mann war schwer, aber es gelang halbwegs, und als sein Hinterkopf an ihrer Brust ruhte, konnte sie auch sein Gesicht sehen und dass er keinen Schaum vor dem Mund hatte, das Gesicht war wächsern und schweißnass, aber nicht verzerrt, doch starrte der Mann so insistierend zu Boden, dass sie selbst unwillkürlich dort nach irgendetwas Schrecklichem Ausschau hielt, einem Blutfleck etwa. Aber da war nichts. Während die rechte Hand des Mannes noch immer schraubstockfest um ihren Oberarm geschlossen war, hatte die linke sich gelöst und zuckte unkontrolliert hin und her, und dann passierte es. Er bekam Hélènes Kleid zu fassen und klammerte sich so heftig daran, dass sie hören konnte, wie die Seitennaht riss in Höhe der Taille. Dann wurde sie erlöst.
    Zwei Weißgekleidete, ein junger Pfleger und eine Schwester, knieten sich neben sie, der Mann griff dem
Hilflosen unter die Achseln und hob ihn behutsam hoch, die Frau half ihm, indem sie die Hand des Mannes von Hélènes Oberarm löste und auf ihn einredete. Hélène, ein wenig unter Schock, verstand nichts von den Worten, richtete sich auf zittrigen Beinen auf und strich das Kleid glatt. Dann sah sie den Blick des Fremden, der auf sie gerichtet war. Er war von so bodenloser Traurigkeit, dass sich das aufmunternde Lächeln, das sich schon halb auf ihrem Gesicht gebildet hatte, wieder auflöste. Dieser Blick war so schwermütig, dass sie später nicht einmal hätte sagen können, ob er überhaupt etwas wahrnahm oder ins Leere ging, ob er ihr galt oder durch sie hindurchfiel wie durch ein Sieb. Dieser Blick verhinderte auch, dass Hélène, als sie kurz darauf den Aufzug betrat, um in den vierten Stock hinaufzufahren, einschätzen konnte, wie alt der Mensch gewesen sein mochte. Während sie die Seitennaht des geblümten Kleids inspizierte, die von der Höhe des Büstenhalters bis zum Gürtel aufgerissen war, sah sie die Augen vor sich und verspürte ein solches Mitleid, dass sie darüber völlig die üblichen Krankenhausüberlegungen vergaß, mit denen die Menschen, die hier einander im Vorübergehen mustern, versuchen, den anderen nach Gesichtsausdruck und Körperhaltung in Mitarbeiter, Besucher, leichte und schwere und
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