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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
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hintereinander vorwärtswälzte, vorbei an stehenden, verkeilten, hupenden Autos, und, je näher sie der großen Magistrale kam, bald die ganze Straßenbreite beanspruchte.
    Wie eine immense Ebene nach der Durchquerung einer Schlucht öffnete sich dann am Rond Point der weite Horizont der Champs-Elysées. Die roten und gelben Lichtschlangen ringelten sich um den Kreisverkehr, wanden sich parallel die Prachtstraße hinauf, verloren sich auf halber Höhe im rosigen, violetten Nebel, zur anderen Seite, nach Osten, desgleichen. Unter dem Getöse zweier Polizeihubschrauber, deren Suchscheinwerfer den Schneeregen beleuchteten und Fassaden, Straße und Gehwege in gespenstischem Licht aufflackern ließen wie das Schattenspiel eines Großbrandes, schien es, als habe nach einer Naturkatastrophe oder einem Angriff die Bevölkerung der ganzen Stadt, obdachlos geworden, sich auf den Exodus begeben, einen Exodus ohne Führer und Ziel. Menschenströme überschwemmten die Trottoirs
und Alleen. Überall redeten, diskutierten, stritten Leute, erhitzten sich, der Ausnahmezustand lockerte ihre Zungen, brach das Glacis auf, das ein jeder zu normalen Zeiten unsichtbar um sich trägt und das kein Fremder mit Worten, Blicken oder Gesten je zu durchbrechen wagt.
    Aus gehetzten Stadtmonaden, dachte Hélène, wird im Notfall wieder eine Population von Menschen, die sich organisieren, strukturieren, sozialisieren muss.
    Fünf Verkehrspolizisten, die es aufgegeben hatten, den Verkehr zu regeln, der nicht mehr zu regeln war, der sich nicht mehr rührte, standen unter einer Ampel, die auf Dauerblinklicht geschaltet war, unterhielten sich angelegentlich und ignorierten stur die beiden Autofahrer, die zwanzig Meter weiter aneinandergeraten waren.
    Fahrradfahrer segelten aufrecht zwischen den Autos hindurch wie Rennyachten zwischen Riffen. Auf den äußersten Zweigen der Platanen blieb der Schnee liegen und verwandelte sie, sobald die Lichtkegel der Helikopter sie streiften, in funkelnde Kristallüster. Der tiefhängende Himmel changierte zwischen Violett und Aschegrau, die Trottoirs waren mittlerweile von einer hellbraunen Schneematschschicht bedeckt, auf der eine Dame in Pumps mit Ledersohlen ausrutschte. Sie fiel direkt hinter Hélène und Cote hart auf den Asphalt und schrie dann mit schriller Stimme, ihre Handtasche, nachdem sie sich wieder aufgerappelt und abgeklopft hatte, vor Wut noch einmal zu Boden feuernd: Merde alors! J’en ai marre, mais marre!
    Das ganze Spektakel hatte etwas Archaisches, etwas von steinzeitlicher Völkerwanderung auf der Flucht vor Eis und Vulkanausbrüchen, und solche Zeiten, dachte
Hélène, waren immer nicht nur Zeiten von Furcht, Anspannung und Auseinandersetzung gewesen, sondern auch von Improvisation, Neuentdeckungen, Mut, Freundschaft und Solidarität. Und während sie jetzt, vor oder hinter dem Amerikaner, die Prachtstraße zwischen Stoßstangen und Stoßstangen zur Avenue Montaigne hin überquerte, hatte Hélène das Gefühl, in diesem Getriebenwerden und Sich-Durchschlagen mit allen dazugehörigen Ängsten und unerwarteten Gelegenheiten ihren Platz zu haben, dazuzugehören. Sie sah den Amerikaner an, der seinen Tunnelblick verloren hatte und fähig war, zugleich auf seinen Weg zu achten und die Umgebung wahrzunehmen. Seine weit geöffneten Augen schienen die absurde Szenerie in großen Zügen einzuatmen.
    Wie geht es Ihnen?, fragte Hélène.
    Besser als seit Langem, sagte er dann auch. Ich habe das Gefühl, ich bin auf einmal wieder Herr über meinen Körper. Ich erinnere mich, wie viel Spaß es früher gemacht hat, Samstagabend in die Stadt zu gehen. Ein bisschen mulmig und zugleich erwartungsfroh. Ja, so ungefähr fühle ich mich: wie als ich siebzehn war und downtown ging.
    In Worcester, Massachusetts!, sagte Hélène.
    In Worcester, Massachusetts!, bestätigte Cote und grinste.
    Die meisten Luxusgeschäfte der Avenue Montaigne hatten aus Angst vor Plünderungen geschlossen und die Fallgitter heruntergelassen. Hinter den Vorhängen der großen, unter schirmförmigen roten Markisen liegenden Bogenfenster des Plaza Athénée sahen die Hotelgäste neugierig und ängstlich heraus auf den Menschenstrom,
der sich auf Gehwegen und Straße in Richtung Seine wälzte. Der livrierte Portier unter der geschwungenen, gläsernen und zinkgerippten Art-déco-Muschel, die den Eingang überdachte, machte ein Gesicht, als fürchte er, aus diesem bunt gescheckten Demonstrationszug plötzlich Menschen ausbrechen zu sehen, die
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