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Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)

Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)

Titel: Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
Autoren: Samarkand
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Ein Knabe namens Igor und lebte mit meinen Eltern, den Eltern meines Vaters und meinen acht Brüdern und Schwestern in Russland, genauer gesagt in Nischni Nowgorod. Dort, wo die Flüsse Oka und Wolga zusammenfließen. Wir schrieben das Jahr 1328. Zwei Jahre später ereilte mich der Ruf in einem Traum. Ganz klar sah ich einen Weg vor mir. Es stand für mich fest, dass ich gehen würde. Gehen musste. Meiner Familie konnte ich davon nichts erzählen. Dass ich heilende Fähigkeiten hatte, war allen bekannt. Da war ich bei uns zuhause nicht der Einzige. Dass ich auch noch andere Dinge beherrschte, hat meines Wissens außer Morena nie jemand erfahren. Und so ging ich eines Tages alleine auf die Jagd und kehrte niemals zurück. So war es für mich am einfachsten. Viele kehrten damals, die sich allein auf den Weg machten, nicht zurück. Es war nun einmal so. Ein Jagdunfall, ein Überfall. So wusste ich, dass meine Brüder mich höchstens drei Tage lang suchen würden, länger nicht. Niemand konnte wissen, wohin einen der Weg führen würde, wenn man Wild erlegen wollte. Und so ging ich meiner Bestimmung entgegen. Ich lief, schwamm und manches Mal bin ich sogar auf Flügeln getragen worden. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs war. Ich weiß nicht, welchem Weg ich folgte, um meinen Bestimmungsort zu erreichen. Ich wusste nur, dass ich meiner inneren Stimme vertrauen konnte. Ab dem Zeitpunkt des Traumes waren mir Hunger, Durst, Krankheit und Schlaf fremd. So erreichte ich die Höhle in Pointe du Raz und auch die Höhle hier auf der Île de Seine. Und so wirke ich hier seit vielen hundert Jahren.“
     
    Gavin atmete einmal tief ein und aus und sagte dann nur noch leise: „Dies ist meine Geschichte. Dies ist die Geschichte des Knaben Igor. Dies ist die Geschichte von Gavin, dem Befreier.“
    Gavin lachte leise. „Diesen Namen habe ich mir selbst gegeben. Igor, so fand ich , hörte sich der Gegend und meiner Bestimmung gemäß einfach nicht richtig an.“
    Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Lange, so kam es mir vor, standen wir nebeneinander an die Höhlenwand und schwiegen einvernehmlich. Meine Gedanken ruhten zum ersten Mal, seit ich am Morgen erwacht war. War es wirklich noch nicht einmal einen Tag her, seitdem mein Leben eine so wundersame Wendung genommen hatte? Die Geschichte von Igor oder Gavin hatte mich gefangengenommen, hielt mich immer noch gefangen. Aber während Gavins Erzählung hatte ich seine Akzeptanz seiner Aufgabe, seiner Berufung gespürt und ich fühlte innerlich nun ganz intensiv, dass ich hier mein altes Leben ablegen und ein neues fernab von allem Bekannten beginnen könnte. So sollte es sein. Und so resümierte ich für mich ganz ruhig im Stillen, dass es auch endlich an der Zeit sei. Kurz vor meinem vierzigsten Lebensjahr hatte ich in der Welt, in die ich hineingeboren war, nichts anderes zu erwarten als in den vergangenen Jahrzehnten auch. Und so brach ich unser Schweigen.
    „Was muss ich tun, Gavin?“
    Er drehte sich zu mir, so dass ich ahnen konnte, wohin seine Augen blickten und antwortet mir: „Nichts. Gar nichts, außer zu sein. Es ist jetzt an der Zeit. Jetzt oder nie mehr. Jedenfalls nie mehr in diesem Leben. So sind die Gesetzmäßigkeiten. Ein plötzliches Auftauchen meinerseits, mein erneutes Verschwinden und dann die Frage nach dem Ja oder Nein. Niemand wird von uns gezwungen. Wenn ein Menschenkind sich nicht aus seinem trostlosen Sein lösen mag, so lassen wir es in seinem Leben und schauen nicht zurück.“
    Er sprach nicht weiter un d so fragte ich: „Was passiert, wenn die Antwort ein ja ist?“
    „Dann beginnt sofort ein neues Leben. Ein Leben fernab des Bekannten. Ein Leben in Freiheit.“
    „Wenn es auch niemanden gibt, der sich wirklich um mich gekümmert hätte, so wird doch mein Verschwinden nicht verborgen bleiben, oder …“. Den Rest des Satzes vervollständigte ich nicht. Würde es auch nur einen einzigen Menschen geben, der um mich weinen würde? Maman Sofie lebte schon lange nicht mehr, Kontakt zu meinen Eltern gab es so gut wie gar nicht mehr. Jacques und ich waren uns vor Wochen das letzte Mal in diesem riesigen Haus begegnet ohne wirklich miteinander zu sprechen. Und doch hatte ich mich auf dieser Erde bewegt, hatte mehr oder weniger gelebt und geatmet. Wäre es so, als wenn ich nie gelebt hätte? Würde ich nicht einmal die kleinste Fußspur hinterlassen? Was wäre dann aus dem Leben meiner Eltern und von Jacques geworden? Wen hätte er geheiratet?
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