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Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)

Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)

Titel: Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
Autoren: Samarkand
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gelehnt, hörte ich atemlos der Geschichte Gavins zu. In keinem Buch, das ich jemals gelesen hatte, bin ich jemals einer derart fantastischen Geschichte begegnet.
    Mittlerweile hatte Gavin meine Arme losgelassen und hatte sich ebenfalls an die Felswand gelehnt. So standen wir nun nebeneinander, in einer für mich völlig unwirklichen Welt, zusammen eingebunden in einer noch unwirklicheren Geschichte. Ich hauchte nur: „Erzähl bitte weiter.“ Und das tat Gavin …
     
    Wieder in der Gestalt des Knaben hockte Gavin sich neben das junge Mädchen, das einen sonnigen Platz im Gras gesucht hatte, um zu verschnaufen und ihre Kleidung trocknen zu lassen. Morena war ihr Name. Und sie erzählte dem Knaben Gavin, was die Alten ihres Volkes zu berichten wussten.
    „Schon meine Urgroßeltern, meine Großeltern und dann auch meine Eltern sowie alle anderen unseres Volkes wussten von der Geschichte um den Befreier der Höhle. Die Geschichte wurde oft abends am Lagerfeuer erzählt. Wir alle hörten gebannt zu, was irgendwann in Zukunft wahr werden sollte. Aber ich war bis zum heutigen Tage wohl die Einzige unter uns, die es nicht geglaubt hat. Aber ich habe immer geschwiegen und darauf gewartet, was geschehen würde. Vielleicht bin ich aus diesem Grunde auserwählt, dem Befreier der Höhle zu begegnen. Schau nicht so! Schnell habe ich gemerkt, dass Du Dich heute das erste Mal verwandelt hast. Du hättest Dein Gesicht sehen sollen, als Du an Land gegangen bist.“
    Morena brach in ein melodiös klingendes Lachen aus. Schnell aber beruhigte sie sich und sprach leise weiter.
    „Unser Volk erzählt sich schon seit Jahrzehnten die Geschichte, dass eines Tages ein Stier dem Wasser entsteigen würde, um dann wieder Menschengestalt anzunehmen. Wo der Ursprung dieser Legende ist, konnte mir keiner mehr sagen; zu alt schon ist die Überlieferung. Ein Stier, so stark und schön, wie man es sich kaum vorzustellen vermag. Ein weiterer Befreier auf dieser Welt. Verschiedene Gestalten auf der ganzen Welt würden sie annehmen. Sie wussten von einem Bären, einem Adler, einem Tiger und ganz vielen anderen Tieren zu erzählen. Und ein jeder von ihnen sei ein Auserwählter und ihm wäre eine bestimmte Stelle, irgendwo auf dieser weiten Welt, zugewiesen, um Menschen aus ihrem Elend zu befreien. Menschen, denen man nicht die Möglichkeit gegeben hat, ihr Leben so zu entfalten, wie es normal für sie gewesen wäre und die nicht die Kraft aufbringen, dieses ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Und heilen können sie. Und mit den Tieren sprechen.“
    Ich schaute Morena mit großen Augen an. Als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte, sagte ich ihr, d ass ich von Geburt an fähig bin zu heilen und auch mit den Tieren zu sprechen. Aber ich mich noch nie in ein anderes Wesen verwandelt hätte. Und schwimmen könnte ich eigentlich auch nicht. Und ich gar nichts davon weiß, ein Auserwählter zu sein und von einer bestimmten Stelle irgendwo auf der Welt ebenso wenig. Morena schaute mich mit leuchtenden Augen an, zuckte nur mit ihren schmalen Schultern, als sie wieder das Wort ergriff.
    „Unser Volk erzählt, dass diese Auserwählten es gewusst haben, wann es soweit wäre, zu ihrem Bestimmungsort zu gehen und dort zu wirken. Un d so wird es auch bei Dir sein, glaube ich. Mehr kann ich Dir nicht sagen. Denn weil ich diese Geschichten nicht wirklich glauben konnte, habe ich nicht immer so genau zugehört. Aber man erzählte uns, dass, wenn die Verwandlungen losgehen, es nicht mehr lange dauert und der Ruf erschallt, dem sie dann folgen.“
    „Was für ein Ruf? Von wem?“, fragte ich Morena. Aber sie hatte sich schon erhoben und sagte nur noch: „Die Sonne steht schon tief, meine Eltern w arten bestimmt auf mich. Ich muss mich beeilen.“ Sie lief los, ohne dass ich noch etwas sagen, noch etwas fragen konnte. Aber sie drehte sich um, lief zu mir zurück, küsste mich zart auf die Lippen und sagte zum Abschied: „Ich kann es nicht glauben, jetzt kann ich die Geschichte bei unserem Volk weitererzählen. Ich wünsche Dir viel Glück und ein schönes Leben. Wir werden uns nicht wiedersehen. Denn ich gehöre nicht zu den Menschen, die die Auserwählten retten müssen.“
    Den letzten Satz rief sie laut, denn sie war schon wieder losgeeilt.
    Gavin schwieg für einen Moment und fuhr dann leise fort.
    „Morena hatte Recht. Wir haben uns niemals wiedergesehen. Aber sie hatte nicht nur damit Recht, wie Du siehst. Ich war damals ungefähr vierzehn.
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