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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
Autoren: Heyne
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gehabt:
    Sie stand auf einem Bahnsteig, als der Zug einfuhr, mit dem die Mutter kommen sollte. Der Zug hielt an, und die Patientin sah, dass die Mutter von innen vergeblich versuchte, die Zugtür zu öffnen.
    Die Therapeutin bittet die Patientin, sich bequem hinzusetzen und die Augen zu schließen. Dann fordert sie sie auf, den Traum noch einmal zu erzählen, und zwar so, als würde sie ihn jetzt in diesem Augenblick träumen. Vielleicht hilft sie ihr noch, indem sie den Anfang vorgibt: »Ich stehe auf dem Bahnsteig …«
    Die Patientin erzählt den Traum noch einmal in der Gegenwartsform, und man merkt, dass sie gefühlsmäßig nun viel dichter am Traumgeschehen ist.
    Als sie geendet hat, bittet die Therapeutin sie, die Augen weiter geschlossen zu halten, und fragt sie, wie sie sich im Traum gefühlt hat. Die Patientin erzählt, sie habe die üblichen gemischten Empfindungen der Mutter gegenüber gehabt: die Hoffnung, das Zusammensein werde dieses Mal harmonischer sein, aber auch die Angst, es könne wieder zum Streit kommen, und den Gedanken, die Mutter wäre besser zu Hause geblieben.
    Man merkt: All das ist nichts Neues. So weit war man in der Therapie auch vorher schon gekommen. Die Therapeutin weist die Patientin an, sie soll sich vorstellen, sie sei die Mutter in diesem Traum. Es ist der Patientin anzumerken, dass ihr das deutlich schwerer fällt.
    Wieder hilft die Therapeutin ihr, indem sie die ersten Worte vorgibt: »Ich bin die Mutter in dem Traum …« Die Patientin setzt ein paarmal an, aber sie ist nicht wirklich in der Rolle. Immer wieder fällt sie in den Part der Tochter in dem Traum zurück und beschreibt die Mutter von außen, so, wie sie sie als Tochter erlebt. Erst nach einiger Zeit gelingt es ihr, wirklich in die Rolle der »Traummutter« zu schlüpfen.
    »Ich freue mich auf sie«, sagt sie in der Rolle der Mutter plötzlich. »Ich möchte sie in die Arme nehmen.« Die Patientin beginnt zu weinen und fragt, ob sie die Augen öffnen dürfe. Als die Therapeutin zustimmt, zeigt sie sich überrascht, dass sie so traurig geworden ist.
    In dem Moment, als die Patientin sich in den Traumteil hineinversetzte, der die Züge ihrer Mutter trug, ist sie auf Gefühle gestoßen, die ihre eigenen waren. Auf Gefühle, die selbst in den Kindern der schlimmsten und bösartigsten Eltern verborgen sind. Man hat nun einmal nur diese eine Mutter, diesen einen Vater. Alles andere ist nur Ersatz. Und so, wie eine junge Graugans dem ersten Wesen oder Gegenstand hinterherläuft, den sie nach dem Schlüpfen sieht – und sei es ein Bobbycar –, so ist der Mensch ein Leben lang auf der Suche nach der Liebe der Eltern. Und je weniger er davon bekommen hat, umso mehr läuft er ihr nach. Ganze Fernsehsendungen leben davon, dass sie Menschen begleiten, die ihre leiblichen Eltern suchen, selbst wenn nicht die geringste Erinnerung an sie besteht und die Adoptiveltern die liebevollsten Ersatzeltern der Welt waren.
    Indem der Patientin diese Wünsche noch einmal vor Augen geführt werden, ist es ihr nun besser möglich zu begreifen, warum es ihr so schwerfällt, die Verletzungen durch die Mutter abzuwehren und ihr Grenzen zu setzen. Und warum sie sich dem immer wieder aussetzt. Wider alle Erfahrung gibt sie die Hoffnung nicht auf, die Mutter könne sich doch noch einmal in eine zumindest ausreichend gute Mutter verwandeln.
    Dann stellt sie die Frage, die Patienten an dieser Stelle häufig stellen: »Und? Was mache ich jetzt damit?« Die Therapeutin fragt sie, ob sie bereit wäre, noch ein Stück weiterzugehen. Als die Patientin bejaht, bittet sie sie, noch einmal die Augen zu schließen. Dann weist sie die Frau an, sich vorzustellen, sie sei die Zugtür in dem Traum.
    Das ist ein kitzliger Moment in der Traumarbeit, wenn auch nur beim ersten Mal. Am liebsten würden die Patienten sich weigern. Stellen Sie sich vor, Sie sind die Briefmarke in dem Traum. Stellen Sie sich vor, Sie sind der Spülschwamm in diesem Traum. Das ist schon eine ziemliche Zumutung.
    Gelegentlich bricht der Patient an dieser Stelle die Sache lieber ab, statt etwas derart Albernes zu tun. Das ist der Augenblick, wo der Therapeut anfängt, wieder an den Zensor zu glauben, der das, was hinter dem Traum steht, lieber für sich behalten möchte.
    Doch unsere Patientin lässt sich darauf ein, denn sie kennt das schon. Sie sagt: »Ich bin die Zugtür in dem Traum. Für diese Frau werde ich mich nicht öffnen. Da kann die noch so sehr an mir rütteln. Ich habe
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