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Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Titel: Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)
Autoren: Kera Jung
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tiefe Notwendigkeit, sich irgendwie zu beherrschen, damit niemand die wackelige Fassade durchschaute. Ging das schief, dann war er geliefert. Sie würden ihn ins Irrenhaus verfrachten und nie wieder herauslassen. Und davor empfand Andrew so unendliche Angst, dass ihn allein der Gedanke daran wieder zu ein wenig Kraft verhalf.
    Das zu verhindern, machte seinen gesamten Lebensinhalt aus. Andrew hatte innerhalb der letzten zwei Jahre eine ganze Menge gelernt. Er war fast ein Profi. Aber eben nur fast.
    Manchmal, wenn er in der Einsamkeit der Nacht zu versagen drohte, fiel sein Blick auf die kleine weiße Narbe am linken Handgelenk.
    Er konnte sich noch genau an deren Entstehen erinnern, ganz besonders jedoch an jenen süßen, so wohltuenden Schmerz, nach dem er sich mit jeder Sekunde, die er sich in seinem stillen Gefängnis befand, mehr zurücksehnte.

5.
    Sie sind erst vor kurzem in das neue Haus eingezogen.
    Zeitgleich muss sein Dad beschlossen haben, diese Sarah zu heiraten. Niemand fragt den Jungen, ob der damit einverstanden sei. Dessen Meinung ist uninteressant. Schließlich ist er noch klein und hat keine eigene Ansicht zu besitzen. Außerdem mimt er ohnehin mehr einen Schatten, als ein Familienmitglied – und das ist gut so. Er hätte es nicht anders gewollt.
    Als die Party im vollsten Gange ist und Andrew nicht mehr weiß, wohin mit dem riesigen Schmerz, der in seiner Brust tobt, schleicht er sich nach oben. Niemand beachtet ihn, die vielen Gäste sind viel zu sehr mit dem Feiern des glücklichen Brautpaars beschäftigt.
    Sorgfältig verschließt er die Tür des Badezimmers – er hat bereits begriffen, dass man die verrücktesten Dinge anstellen kann, sich nur niemals dabei erwischen lassen darf.
    Das Steakmesser ließ er zuvor unbemerkt von der Tafel mitgehen. Keine große Hürde, weil er im Grunde Luft verkörpert. Und während der gesamten Zeit kämpft er mit den Tränen. Weil ihm seine Mommy so unglaublich fehlt und weil er sich mit dem heutigen Tag wohl endlich der Realität stellen muss: Sie wird nicht mehr zurückkehren.
    Ohne sich bewusst zu sein, was er eigentlich tut, setzt er sich auf die geschlossene Toilette, lässt die Messerklinge auf sein Handgelenk sinken und drückt zu. Erst noch verhalten, die natürliche Hemmschwelle muss auch er überwinden. Doch bald verstärkt er den Druck und der scharfe Stahl durchtrennt den dünnen weißen Stoff seines Hemdes mit Leichtigkeit. Wenig später machen sich kleine rote Rosen darauf bemerkbar.
    Es tut weh, ja, doch es ist gut. Eine gute Qual. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er genau danach gesucht hat und er lehnt den Kopf zurück, schließt die Augen und genießt mit einem seligen Lächeln auf den schmalen Lippen.
    An diesem Tag lernt Andrew, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, diesem tobenden Schmerz in seiner Brust zu entfliehen. Er muss ihn nur an eine andere Stelle seines Körpers verlagern. Dorthin, wo er nicht von seinem Brustkorb im Schach gehalten wird. Denn so kann er sich irgendwann in die Luft erheben und verschwinden.
    Eine lange, sehr lange Weile sitzt er mit geschlossenen Augen in dem nagelneuen, blitzenden Bad und gibt sich den seligen Qualen hin. Zum ersten Mal seit jenem grauenhaften Ereignis, das ihn noch in zwanzig Jahren in jeder Nacht heimsuchen wird, kann er befreit aufatmen.
    Und als er wieder zu sich kommt, kostet es ihn nur ein müdes Lächeln, die Spuren so zu beseitigen, dass niemand ihm etwas nachweisen kann. Diese Notwendigkeit hat er auch schon längst erkannt. Er versorgt die Wunde, entfernt das Blut, das sich reichlich auf den weißen Fliesen gesammelt hat, zieht ein neues Hemd an und geht dann wieder hinab zu all den Verrätern, während der Oberverräter die fremde Frau küsst ...

6.
    Bisher war es bei diesem einen Ausflug ins Reich der Selbstverstümmelung geblieben.
    Obwohl Andrew bald erfuhr, dass der Schmerz irgendwann zurückkehrte und es sich wieder in seinem Knochenkäfig bequem machte.
    Sehr oft wollte er ihn erneut befreien, widerstand jedoch immer, manchmal im sprichwörtlich letzten Moment. Er hatte sich nämlich überlegt, dass diese unscheinbare weiße Narbe, die von seinem heimlichen Abenteuer zurückgeblieben war, irgendwann auffallen könnte. Besonders, wenn sich weitere hinzugesellten.
    Als Kind war man den Erwachsenen hilflos ausgeliefert. Wenn die sagten, „Zieh dich aus!“, dann musste man das tun. Sie schleiften einen zu Ärzten, die irgendwelche Impfungen verabreichten. Und spätestens dort
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