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Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Titel: Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)
Autoren: Kera Jung
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löste er, indem er sich seit über einem Jahr seine Sachen selbstständig aus dem Schrank suchte. Er brauchte drei Anläufe, dann zeigte sich seine Pseudomutter zufrieden.
    Auseinandersetzungen aufgrund mangelnder Beschäftigung ging er aus dem Weg, indem er faktisch nie untätig war. Entweder er lernte, spielte Klavier oder er las. Abgesehen von den Klavierstunden bei der alten Mrs. Brady, hielt Andrew sich beinahe ausschließlich in seinem Zimmer auf. Dieser Raum verkörperte seine Zuflucht und Folterkammer zugleich.
    Hier schützte er sich vor der Außenwelt und deren verwirrenden Einflüssen. Hier holten ihn jedoch auch zuverlässig seine Zweifel und die Mutlosigkeit ein. Allzu oft drohte er, sich in peinlichen Tränen aufzulösen, weil er manchmal so müde war, dass seine Augen nichts mehr deutlich wahrnehmen konnten.
    Hier litt er unter Atemnot, hier glaubte er zu krepieren, hier sah er seine echte Mom sterben.
    Und das in jeder Nacht. Seit mehr als zwei Jahren.
    Doch seitdem er erfolgreich demonstriert hatte, dass sein Tag mit sinnvollen Beschäftigungen ausgefüllt war, versuchte wenigstens niemand mehr, sich mit ihm auseinanderzusetzen . Sehr gut. Es verlangte nämlich verdammt viel Konzentration, täglich einundzwanzig Stunden in halbwegs wachem und ansprechbarem Zustand durchzustehen.
    Selbst ein Siebenjähriger konnte das unter Umständen schon mal bewerkstelligen.
    Doch Andrew vollbrachte dieses Kunststück bereits seit über zwei Jahren. Jeder – jeder! – andere hätte in der Zwischenzeit wenigstens gepatzt. Bisher hatte er noch jeden erfolgreich getäuscht.
    Er benötigte drei Anläufe, um dahinterzukommen, was dieser Steiner von ihm hören wollte.
    Da war er fünf.
    Ab diesem Moment erzählte er ihm in schöner Regelmäßigkeit und mit sehr blumigen Worten, wie arg er seine Mommy vermisse und wie gern er sie wiederhaben würde. Doch sie sei jetzt ein Engel im Himmel und wache dort über ihn. Und eines fernen Tages, wenn er als alter Mann sterbe, würde er sie endlich wiedersehen. Daddy habe jetzt eine neue Mommy für ihn gefunden, die sei auch ganz lieb.
    Steiner war begeistert und Andrew hatte seine Ruhe.
    Allerdings musste er zwei Jahre lang zweimal wöchentlich diesen Nonsens erzählen, bevor der Arzt endlich attestierte, dass mit Andrew Nortons Oberstübchen wieder alles in bester Ordnung war .
    Zu diesem Zeitpunkt war der Junge soweit, sich unter seiner Decke zu verkriechen und so lange zu brüllen, bis seine Stimme für immer kapitulierte.
    Doch Andrew lernte schnell, dass sichersten war, immer zu lächeln. Ganz egal, wie müde er sich fühlte. Das traf ohnehin ständig zu. Vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Er wusste nicht, was 'Ausgeschlafen sein' bedeutete, denn diesen Zustand hatte er noch nie erlebt, jedenfalls nicht bewusst.
    Das Zu-Bett-Gehen erledigte er bereits seit über einem Jahr ohne Hilfe. Seine Eltern zeigten sich regelmäßig unglaublich stolz, weil Andrew so „außerordentlich selbstständig und vernünftig“ war.
    Weder die Ersatzmommy noch sein Daddy und schon gar nicht dieser Doktor Steiner wussten allerdings, dass Andrew, wenn er sich abends, pünktlich um acht Uhr, zur Nacht verabschiedete, garantiert nicht schlief. Ab diesem Moment begann in Wahrheit der zweite Teil seines Tages.
    Den verbrachte er mit heimlichem Lesen unter der Decke, damit niemand das Licht sah. Sarah vergewisserte sich nämlich öfter einmal, ob 'der Junge' auch wirklich schlief.
    Es störte!
    Andrew hasste sie dafür. Nun gut, in Wahrheit hasste er diese Person für alles. Das sanfte Lächeln, weil sie ihn an seine Mom erinnerte und doch ganze Planeten davon entfernt war, diese zu sein, für ihre Sorge um ihn, die ihr weder zustand noch aufrichtig war und für die Art, wie sie ihn immer wieder skeptisch musterte.
    Er wollte sie nicht!
    Am Anfang hatte sie ärgerlicherweise versucht, sich ihm aufzudrängen. Urplötzlich tauchte sie abends an seinem Bett auf und meinte, ihm aus einem Buch vorlesen zu müssen!
    Damals war Andrew fünf und konnte seit über einem Jahr lesen. Doch er verzichtete darauf, ihr das mitzuteilen. Stattdessen starrte er zur Decke, bis sie schließlich aufgab und verschwand. Das hielt sie eine Woche durch, dann kam sie nicht mehr.
    Anfänglich versuchte sie häufig, ihn in den Arm zu nehmen.
    Er widerstand dem Wunsch, sie heftig von sich zu stoßen. Stattdessen erstarrte er nur zur Salzsäule, bis sie ihn endlich wieder losließ.
    Versuchte sie, ihn mit süßem Pudding zu
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