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Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)

Titel: Creatio ex nihilo (Urteil: Leben)
Autoren: Kera Jung
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kurz darauf wird Andrews Mutter fortgerissen. Der Kleine sieht sie unsanft auf dem harten Pflaster aufschlagen, hört ihre Kleidung reißen und das kalte, johlende Gelächter, das kurz darauf einsetzt. Er sieht, was sie mit seiner Mommy anstellen, obwohl er dafür noch keine Worte hat, hört ihre gellenden Schreie, als etwas Silbernes im fahlen Licht des Mondes aufblitzt und immer wieder durch die Luft getrieben wird. Hinab auf seine Mommy ...
    Der Wunsch, ihr zu Hilfe eilen, ist übermächtig. Doch als er es versucht, stellt er entsetzt fest, dass er weder Arme noch Beine finden kann. Sie scheinen verschwunden, obwohl er sie doch sieht!
    Sooft er ihnen den Befehl erteilt, sich endlich zu bewegen!, erntet er von den Empfängern nur störrisches Schweigen. Als hätten sie ganz plötzlich beschlossen, seinem Willen nicht länger gehorchen zu müssen.
    Während der gesamten Zeit dröhnt ein seltsames Geräusch in seinen Ohren. Es erinnert ihn an eine Klapperschlange, wie das glibberige Ding, das er neulich beim Besuch im Zoo sah.
    Andrew braucht eine ganze Weile, bis er erkennt, dass es seine Zähne sind. Unaufhörlich schlagen sie aufeinander, während die Schreie seiner Mommy zunächst in ein grässliches Gurgeln übergehen, bis irgendwann gespenstische Stille eintritt. Warme Nässe macht sich in seiner Hose breit und er lauscht ohnmächtig seinem Wimmern, spürt die Tränen auf den Wangen, während eine dunkle, zähflüssige Substanz sich langsam in den Fugen der Pflastersteine die Gasse entlangfrisst ...
    * * *
    „Nein!“

2.
    Als er erwachte, empfing ihn Stille, die nur durch sein abgehacktes, mühsames Keuchen unterbrochen wurde.
    Luft!
    Inzwischen brauchte er sie wirklich dringend. Der Trick, um an den begehrten Sauerstoff zu gelangen, war im Grunde einfach zu bewerkstelligen:
    Atmen!
    Doch so sehr er sich auch bemühte, jene sonst so unspektakuläre Übung schien plötzlich unmöglich ausführbar. Angst knebelte seine Kehle, versperrte den Zugang mit eisernen, unüberwindlichen Krallen, deren scharfe Zähne sich tief in seinen Hals bohrten.
    Wie in jeder Nacht seit so langer Zeit, halb wahnsinnig vor Panik und Angst, glaubte er, dass es endlich soweit war. Heute würden die Krallen nicht mehr im letzten Moment ein Einsehen haben und ihn noch einmal mit dem Leben davonkommen lassen.
    Heute – endlich – würde er sterben.
    Andrew wusste nicht, wie es sein würde, doch sehr grauenhaft stellte er sich den Tod nicht vor. Nicht furchtbarer als das Leben, jedenfalls. Schon, weil er dann endlich wieder bei seiner Mommy sein konnte. Dieser Gedanke machte ihm Mut. Er wehrte sich nicht mehr gegen die zunehmende Atemnot, träumte sich stattdessen in ihre Arme und ignorierte, dass sich seine Lungenflügel zusammenzogen. Auf der verzweifelten Suche nach Sauerstoff, der ihnen gestattete, sich in dem kleinen Brustkorb endlich wieder auszudehnen.
    * * *
    Andrew hatte kein Glück. Er starb nicht.
    Stattdessen musste er sich der nächsten Herausforderung stellen. Und gegen die machte sich sein Beinahetod von eben als echtes Kinderspiel aus ...
    Er musste leben.

3.
    Nachdem er eine Weile erfolgreich versucht hatte, wieder zu Atem zu kommen, blickte er zum Wecker. Dessen phosphoreszierende Zeiger leuchteten grell in der Dunkelheit.
    Drei Uhr morgens ...
    Er war erst sieben, doch die Uhr konnte er bereits seit Jahren lesen. Damals, als er es lernte, wähnte er es nur als Spiel. Heute war er dankbar für diese zehn Minuten seines alten Lebens.
    In seinem Neuen stellte diese Fähigkeit eine große Hilfe dar. Nur so wusste er, wann er auch im Winter am Morgen das Zimmer verlassen konnte, ohne sich die argwöhnischen Blicke seiner Eltern zuzuziehen.
    Damals, als er noch dumm war – also vor ungefähr einem Jahr – ließ er sich einige Male beim Im-Haus-Umherschleichen von seinem Dad erwischen. Dabei hatte er überhaupt nichts Bestimmtes vor. Eigentlich ging es ihm nur darum, die Zeit totzuschlagen, bis das Haus zum Leben erwachte.
    Nicht, dass er die Absicht hatte, daran teilzunehmen. Doch wenn die ersten Türen gingen, dieses nervende Baby schrie oder der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in seine Nase stieg, war dies für den kleinen Jungen das Zeichen, offiziell wach sein zu dürfen.
    Inzwischen wusste er es besser und blieb in seinem Zimmer. Obwohl die Begegnungen mit seinem Dad nicht unbedingt ereignisreich verlaufen waren. Wenn überhaupt, musste er sich der Frage stellen, weshalb er denn um diese Uhrzeit nicht
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