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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
Autoren: Donna Leon
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dass er kaum zu verstehen war: »Nicht direkt.«
    »Was soll das heißen?«
    »Ich habe sie angefasst«, sagte er, sah kurz zu Brunetti hin, dann wieder auf seine Füße. Brunetti wartete, bis er weiterredete. »Sie hat gesagt, ich soll gehen, ich könne ihr erzählen, was ich wolle, aber den Schlüssel werde sie mir nicht geben. Und dann ist sie zur Tür gegangen.«
    »Was hatte sie mit dem Schlüssel vor?«, fragte Brunetti.
    Morandi sah ihn ausdruckslos an. »Keine Ahnung. Das hat sie nicht gesagt.« Brunettis Phantasie kollidierte mit seinem juristischen Wissen. Allein der rechtmäßige Besitzer des Schlüssels war befugt, das Schließfach zu öffnen, und dies nur in Begleitung eines Vertreters der Bank, der den zweiten Schlüssel hatte. Jeder andere brauchte eine gerichtliche Verfügung, und die bekam man nur, wenn Beweise für ein Verbrechen Vorlagen. Aber nach so vielen Jahren gab es kein Verbrechen mehr.
    Morandi könnte der Bank erzählen, er habe den Schlüssel verloren. Das kostete zwar Zeit, aber irgendwann würde er doch wieder Zugang zu dem Schließfach bekommen. Der Besitz des Schlüssels allein zählte nicht: Damit kam man noch lange nicht weiter; nur der legitime Besitzer durfte das Schließfach öffnen. Das hatte Signora Altavilla nicht [309]  gewusst, und Morandi anscheinend auch nicht. Leere Drohungen.
    Brunetti bohrte weiter: »Was ist passiert?«
    Morandi war nicht verpflichtet, darauf zu antworten, aber auch das wusste er nicht, und so sagte er schließlich: »Sie wollte zur Tür, und ich habe versucht, sie aufzuhalten.« Er hob die Hände und krümmte die Finger. »Ich sage ihren Namen, und als sie sich umdreht, lege ich ihr meine Hände auf die Schultern, aber dann sehe ich ihr Gesicht, und ich muss an mein Versprechen denken.« Er sah Brunetti an. »Ich wollte meine Hände wegnehmen, aber sie riss sich los, ging zur Tür und machte sie auf.«
    »Und Sie?«
    Morandi fuhr noch kleinlauter fort: »Ich habe mich so geschämt. Erst schlage ich Maria, und dann fasse ich diese andere Frau an. Ich kannte sie ja gar nicht, und trotzdem, plötzlich habe ich sie an den Schultern gepackt.«
    »Mehr nicht?«, fragte Brunetti.
    Morandi bedeckte seine Augen. »Ich habe mich so geschämt, dass ich mich nicht mal entschuldigen konnte. Sie machte die Tür auf und sagte, ich soll verschwinden, und da konnte ich einfach nichts mehr machen.« Er streckte eine Hand nach Brunetti aus, aber dann fiel ihm ein, wie Brunetti vorhin darauf reagiert hatte, und er zog sie wieder zurück. »Darf ich Ihnen was sagen?«
    »Ja.«
    »Auf der Treppe sind mir die Tränen gekommen. Ich hatte Maria geschlagen, und jetzt hatte ich dieser armen Frau Angst eingejagt. Ich habe dann hinter der Haustür gewartet, bis ich nicht mehr geweint habe. Nachdem ich Maria geschlagen [310]  hatte, hatte ich mir geschworen, nie mehr etwas Schlechtes zu tun, in meinem ganzen Leben nicht mehr, und jetzt hatte ich schon wieder etwas Schlechtes getan. Also sagte ich mir, wenn ich Maria wirklich so liebe, wie ich immer behauptet habe, werde ich so etwas in meinem ganzen Leben nie wieder tun.« Er stockte, als er sich so reden hörte, und grinste Brunetti verlegen an: »Nicht, dass mir noch viel davon bliebe.« Das Lächeln verschwand. »Und ich habe mir geschworen, nie mehr zu lügen und nie mehr irgendetwas zu tun, was Maria nicht gefallen würde.«
    »Warum?«
    »Das habe ich schon gesagt. Weil ich mich so geschämt habe.«
    »Was versprechen Sie sich davon, wenn Sie Ihren Schwur halten?«, fragte Brunetti.
    Morandi stellte den rechten Zeigefinger senkrecht auf seinen Oberschenkel und drückte ihn hinein, wartete, bis die kleine Delle verschwunden war, und wiederholte das Ganze.
    »Was versprechen Sie sich davon, Signor Morandi?«
    Morandi drückte, wartete, drückte, wartete, bis endlich der richtige Augenblick gekommen war. Schließlich sagte er: »Dass sie mich dann vielleicht lieben würde.«
    »Sie meinen, dass sie Sie dann wieder lieben würde, wie früher?«, fragte Brunetti.
    Morandi sah ihn entgeistert an: »Nein. Mich lieben. Sie hat mich nie geliebt. Nicht richtig. Sie war fast vierzig, als ich auftauchte, und da hat sie mich eben genommen. Aber geliebt hat sie mich nicht, nicht richtig.« Tränen liefen ihm über die Wangen, tropften auf sein Hemd, aber das merkte er gar nicht. »Nicht so, wie ich sie liebe.«
    [311]  Wieder schüttelte er sich wie ein Hund. »Wir sind die Einzigen, die das wissen«, sagte er zu Brunetti, legte ihm
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