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Club Kalaschnikow

Club Kalaschnikow

Titel: Club Kalaschnikow
Autoren: Polina Daschkowa
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kaum merklich. Sie wiederholte im stillen die Worte, die sie auswendig wußte.
    »Vorsicht, die Türen schließen sich. Nächste Station – Kurskaja«, teilte die mechanische Stimme mit.
    Sie mußte das Gebetbuch wieder in den Rucksack stecken, aussteigen und eine andere Linie nehmen. Es war schon spät, die Metro wurde bald geschlossen. Wenn sie den Anschlußzug bekam, würde sie in einer halben Stunde zu Hause sein. Dann mußte sie die Oma Iwetta füttern, waschen und zu Bett bringen, noch ein Weilchen mit ihr reden oder vielmehr der immer gleichen Predigt lauschen, daß sie, Olga, nicht richtig lebe. Mit zusammengebissenen Zähnen und zustimmendem, verstehendem Kopfnicken würde sie zuhören müssen, sonst gab Oma Iwetta keine Ruhe, stöhnte die ganze Nacht, täuschte einen Herzanfall vor und zwang sie, den Notarzt zu rufen. Dann mußte Olga sich beim Arzt entschuldigen und demütig seinen schroffen Tadel wegen des überflüssigen Notrufs zu der alten Närrin hinnehmen. »Was haben Sie sich dabei gedacht, sehen Sie denn nicht selbst, daß Ihre … wer ist sie? Ihre Oma? Ihre Oma ist geistig verwirrt, aber das Herz ist so gesund, da könnte man neidisch werden.«
    Natürlich wußte Olga sehr gut, daß die Oma ein gesundes Herz hatte. Auch, daß sie geistig verwirrt war und daß die Notärzte ihre kostbare Zeit verschwendeten, daß ihre Bezahlung miserabel ist und daß vielleicht gerade jetzt, während sie sich mit Olgas debiler Oma abplagten, ein junger Mensch im Sterben lag und vergeblich auf ihre Hilfe wartete. Das alles wußte Olga, sie würde ihnen nicht widersprechen, sondern bereitwillig ihren letzten zerdrückten Fünfziger hergeben. Entschuldigen Sie, aber mehr habe ich nicht. Ein Fünfziger war wirklich nicht viel, aber sie würden ihr verzeihen. Sie würden sich in dem armseligen Ein-Zimmer-Käfig umschauen und begreifen, daß Olga nicht mehr geben konnte.
    Wenn Olga den Notarzt nicht holte, rannte Oma Iwetta ins Treppenhaus, trommelte an die Türen der Nachbarnund brüllte: »Zu Hilfe! Ich sterbe!«, und dann riefen die Nachbarn die Miliz.
    Also lieber den obligatorischen abendlichen Monolog der Alten ertragen, letztendlich dauert alles zusammen – Essen, Waschen und die Predigt über den Sinn des Lebens – nicht mehr als eine Stunde. Danach konnte sie sich endlich in der Küche einschließen und allein sein.
    Als sie zur Wagentür ging, berührte sie jemand vorsichtig an der Schulter: »Sie haben etwas verloren.«
    Ein älterer Mann reichte ihr ein kleines Farbfoto.
    »Ja, danke.«
    Ohne hinzusehen, nahm Olga das Foto.
    Das lächelnde Gesicht von Gleb Kalaschnikow verschwand in einer Tasche des abgeschabten Rucksacks. Eine Minute zuvor war das Foto aus dem Gebetbuch herausgefallen.
    ***
    »Ein Auftragsmord. Wie aus dem Bilderbuch.« Jewgeni Tschernow, Chefermittler der Moskauer Staatsanwaltschaft, zertrat seinen Zigarettenstummel und fixierte den graublau dämmernden Morgenhimmel. »Ein Kopfschuß, nur ein einziger, aber der war tödlich. Keinerlei Spuren, nicht einmal eine Waffe.«
    »Keine Waffe – das ist auch nicht schlecht. Womöglich ist es doch kein Auftragsmord? Also, wenn hier kein Profi am Werk war, dann haben wir vielleicht doch eine Chance, den Mörder zu finden«, sagte Major Kusmenko nachdenklich.
    »Ach, das kannst du dir von der Backe putzen.« Tschernow machte eine verächtliche Handbewegung. »Manchmal wirft auch ein Profi die Waffe nicht weg. Aber wenn hier kein Profikiller am Werk war … Nein, Wanja, wir tappen im Dunkeln, im Stockfinstern, denk an meine Worte. Nicht die Spur einer Spur, verdammt noch mal, nicht ein Fitzelchen.«
    Tschernow von der Staatsanwaltschaft und Kusmenko von der Miliz waren als letzte am Tatort zurückgeblieben. Alle übrigen Mitglieder des Einsatzkommandos waren bereits weggefahren, den Toten hatte man ins Leichenschauhaus gebracht. Es war klar, daß man diesen Mord nicht zügig würde aufklären können. Keine Zeugen, außer der Frau des Ermordeten. Und sie hatte nur auf den sterbenden Mann in ihren Armen geachtet und in dem dichten dunklen Gebüsch niemanden bemerkt.
    Vor anderthalb Stunden hatte der Polizeihund eine Spur aus dem Gebüsch am Sandkasten des Kinderspielplatzes aufgenommen. Die Spur riß an der Straßenbahnhaltestelle ab. Die letzte Straßenbahn fuhr gegen ein Uhr nachts. Der Schuß war um halb eins gefallen. Morgen früh würden natürlich alle Straßenbahnfahrer befragt werden, die diese Strecke gefahren waren. Vielleicht würde sich
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