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Club Kalaschnikow

Club Kalaschnikow

Titel: Club Kalaschnikow
Autoren: Polina Daschkowa
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der Farbe der Hahnenfußblüten, der ihr schon sehr erwachsen und klug vorkam. Er wußte alles, hatte vor nichts Angst. Einmal brachte er ihr einen lebendigen Igel, in einen zerbeulten Strohhut eingewickelt. Der Igel hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und schnaufte leise und nervös.
    »Hier, halt mal, paß auf, daß er nicht wegläuft. Ich hole Milch.«
    Die Kindheitserinnerungen zerbröselten wie eine alte Filmrolle, schmolzen wie die Spur des Atems auf einer kalten Glasscheibe. Wem diese Datscha gehörte, wer bei wem zu Besuch war, ob der Igel seine Milch bekommen hatte oder ob er weggelaufen war – es war nicht wichtig. Später gab es noch viel mehr – Weihnachtsfeiern für die Kinder im »Haus des Films«, irgendwelche Partys der Erwachsenen, ein Stück Nußtorte, das gemeinsam unterm Tisch geteilt und gegessen wurde (»Aber nicht weitersagen, Gleb, eigentlich darf ich das nicht. Nur noch ein kleines Stückchen.«).
    Dann kamen die ersten Partys ohne die Erwachsenen, Katja war vierzehn, Gleb sechzehn. Alle Mädchen außerKatja waren Zufallsgäste. Sie rauchten affektiert, liefen zum Spiegel in der Diele, um sich die Nase zu pudern, lachten übertrieben laut, und eine Mollige mit weißblonden Löckchen verschwand im Bad, um zu weinen. Katja hörte ihr bitteres Schluchzen, schaute hinein und tröstete sie.
    »Ich sterbe ohne ihn.« Das Mädchen schniefte, verschmierte mit den Fäusten schwarze Tuschebäche über die Wangen.
    Irgendeine wollte immer sterben wegen Gleb Kalaschnikow. Eine Ira aus der Parallelklasse, ein stilles Ding, versuchte sich die Pulsadern aufzuschneiden. Katja konnte gar nicht begreifen, wieso. Was fanden sie alle an ihm? Er war nicht besonders groß, ziemlich kräftig, grob, mit dicken Lippen. Er fluchte wie ein Bierkutscher, erzählte immer dieselben Anekdoten – wie sich jemand bis zur Besinnungslosigkeit besoffen hatte, irgendwo versumpfte, wieder zu sich kam, fast bei der Miliz landete oder bei einer fremden Frau im Bett aufwachte. Nächtelang konnte Gleb Karten spielen, mit einem abgebrochenen Streichholz in den Zähnen stochern, auf dem Gesicht einen so abwesenden, stumpfen Ausdruck, daß einem gruselig wurde. Aber die Iras und Swetas schmolzen vor Rührung, verdrehten die Augen, puderten sich die Nase und liefen ins Bad, um sich auszuheulen.
    Für Katja war Gleb wie ein naher Verwandter, fast wie ein Bruder. Beide waren sie Einzelkinder. Katjas Vater, der Schriftsteller und Drehbuchautor Filipp Orlow, war seit seiner Jugend mit Glebs Vater befreundet. Viele Jahre lang sprachen sie davon, daß es nicht übel wäre, die Kinder miteinander zu verheiraten. Sie meinten es nicht ernst, aber es war dennoch mehr als ein Scherz. Tatsächlich wäre es sogar sehr praktisch gewesen. Man hätte keine neuen Verwandten kennenlernen, keine fremden, außenstehenden Personen in den gemütlichen Familienkreis aufnehmen müssen. Glebs Mutter, Tante Nadja, pflegte zu sagen, jedem anderenMädchen außer Katja würde sie als Schwiegermutter die Hölle heiß machen. Sie kannte Katja seit dem Säuglingsalter und liebte sie wie eine eigene Tochter.
    Gleb und Katja lachten über die rosigen Träume der Erwachsenen. Katja war für Gleb wie ein guter Kumpel oder eine jüngere Schwester. Gleb war für sie so etwas wie die beste Freundin. Sie fühlten sich miteinander wohl, vergnügt, ruhig, aber nicht mehr. Gleb zu heiraten – das wäre das gleiche wie die eigene Kindheit zu heiraten.
    Katja studierte am Moskauer Institut für Choreographie, Gleb am Filminstitut. Beide hatten ihre eigenen Affären, manchmal machten sie sich den Spaß, ihre Erfahrungen auszutauschen.
    Seit ihrem sechsten Lebensjahr tanzte Katja klassisches Ballett. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie im Repetiersaal an der Ballettstange verbracht. Um sich gerade zu halten und nicht zu fallen, um ohne Atempause Dutzende von sauberen Pirouetten zu drehen, um für einige endlos scheinende Augenblicke im Pas balloné über der Erde zu schweben und dann leicht und fest auf der Spitze des straff ausgestreckten, einem angespitzten Bleistift ähnelnden Fußes zu landen – dafür mußte man schwerer schuften als ein Bergmann unter Tage.
    Als Katja noch ein ganz kleines Mädchen war, mit dünnen, nach Ballerinenart auswärts gestellten Beinen, mit einem langen schutzlosen Hals, mit großen, klaren, schokoladenbraunen Augen, da hatte sie schon gewußt: ein Leben ohne Ballett gab es für sie nicht. Ballett aber bedeutet, sich ununterbrochen,
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