Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Club Kalaschnikow

Club Kalaschnikow

Titel: Club Kalaschnikow
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
tagtäglich Gewalt anzutun.
    Den großen Tänzer Assaf Messerer hatten Ärzte nach einer minutenlangen Variation im »Schwanensee« untersucht und waren schockiert: Puls, Atmung und alle übrigen Werte paßten in keinerlei biologisches Schema. Messerers Körper hätte nach allen medizinischen Erkenntnissen vor Überdruck explodieren müssen. Aber der Körper einesBallettänzers explodiert nicht, sondern fliegt empor und schwebt über der schweißigen, schmutzigen, erbarmungslosen Erde. Doch auch beim elegantesten, inspiriertesten Flug muß man kühl und exakt den Atem für jede Bewegung berechnen.
    Alles, was nicht Ballett war, nahm Katja nur am Rande wahr, wenn es sie berührte, dann nicht allzusehr, wenn es sie kränkte, dann nicht bis zu Tränen. Manchmal verliebte sie sich in ihren Partner, gerade so sehr, daß der Pas de deux sich mit der warmen, leuchtenden Luft der Verliebtheit füllte, aber niemals verlor sie den Kopf. Leicht und schnell, wie die klassischen Schrittfolgen, entwickelten und lösten sich ihre Beziehungen. Jedesmal landete Katja auf der ausgestreckten Fußspitze, stand fest auf der Erde, litt nicht ein einziges Mal ernsthaft, und wenn jemand ihretwegen litt, so interessierte es sie nicht.
    1987 wurde ein Teil der Absolventen des Choreographischen Instituts in das neugegründete Theater für Klassisches Russisches Ballett eingeladen. Die zwanzigjährige Katja Orlowa hatte die Hauptrolle im Ballett »Frau Terpsichore« zu tanzen. Es war ein schwieriges, pompöses Stück von drei Stunden Länge, halb Konzert, halb Schauspiel; die Musik hatte ein avantgardistischer Komponist geschrieben, der gerade in Mode war, die Choreographie stammte von einem berühmten alten Ballettmeister. Kostüme und Bühnenbild waren von postmodernen Künstlern entworfen worden. Man hatte ein neues Kapitel in der Geschichte des Balletts schreiben wollen, aber heraus kam nur eine üppige Show, ein prächtiges Schauspiel – nicht mehr.
    Mit dieser Premiere wurde die erste Spielzeit des wiedergeborenen Theaters eröffnet. Nach der Vorstellung gab es ein Festessen.
    Mit zwanzig war Katja die lauten Szene-Partys noch nicht leid, ihr gefiel die rasche, oberflächliche Konversation,das flüchtige Lächeln, ihr eigenes Bild in den Spiegeln und in den entzückten oder neidischen fremden Blicken. Noch war ihre Seele nicht vom fiebrigen Gift der verfliegenden Zeit infiziert. Daß ein Ballettleben kurz ist, wußte sie nur theoretisch. Ihr schien, vor ihr läge nichts als diese helle, erfolgreiche Gegenwart und sie würde niemals älter als zwanzig sein.
    In jener Nacht beim Festessen trug sie ein schlichtes enges Kleid aus dunkelblauem Samt, in den Ohren und an den Fingern blitzten die antiken Brillanten ihrer Urgroßmutter, das lange kastanienbraune Haar war im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengefaßt. Sie gefiel sich selbst über die Maßen, und das war wichtiger als alles andere auf der Welt, wichtiger sogar als die eben getanzte Premiere und die glänzende Improvisation am Schluß, die sie dreimal hatte wiederholen müssen, wichtiger als die riesigen Blumensträuße, die sich in ihrer Garderobe häuften.
    Man gratulierte ihr, küßte sie, stellte ihr irgendwelche Leute vor. Blitzlichter flammten auf. Im Bankettsaal war so viel Prominenz, daß es einem vor den Augen flimmerte. Ständig kam jemand mit Diktaphon zu Katja gerannt, stellte respektvolle oder boshafte Fragen von einer Frauenzeitschrift oder einem neuen Blättchen der Demokraten. Der Champagner brannte süß auf ihren Lippen, und da plötzlich versengte ihr etwas ganz Neues, Mächtiges das Herz.
    Katja begriff zunächst gar nicht, woher dieser sonderbare Schwindel kam, weshalb die Knie plötzlich nachgaben und die Haut unter dem kühlen Samt des Kleides erst heiß, dann eiskalt wurde, als hätte sie hohes Fieber. Erst nach einer Weile bemerkte sie den hartnäckigen, unverwandten Blick aus der Tiefe des Saales. Kaum hatte sie ihn bemerkt, verstummte sie mitten im Satz, vergaß die netten zufälligen Gesprächspartner, mit denen sie gerade fröhlich die Premiere erörtert hatte. Alles um sie herum versank. Übrig blieb nur dieser Blick aus fremden hellgrauen Männeraugen.Er hüllte Katja von Kopf bis Fuß ein, näherte sich, schwebte durch die Menge zu ihr herüber, verdeckte und schob alles andere weg, es gab keine Rettung.
    »Ich verstehe überhaupt nichts vom Ballett, aber Sie haben genial getanzt. Möchten Sie noch etwas Champagner?«
    Ein ruhiges Lächeln, eine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher