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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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Dem Vorsteher nicht, dem Pfarrer nicht und nicht dem Herrgott im Himmel. Versprecht ihr das?«
    »Versprochen, Jonas.«
    »Wir schwören.«
    Der Schwur ging von Mund zu Mund wie ein Geheimnis. Selbst Tobias, der neue Junge, brachte ein leises Murmeln zustande.
    Als es schließlich still war im Raum, fing Jonas an. Er war ein dünner, blasser Junge mit dunklem Haarschopf und tiefen Ringen unter den Augen.
    »Aaron hat gemeint, er muss unbedingt weglaufen«, sagte er. »Er wollte kein Findelkind mehr sein. Wollte machen, was er für richtig hielt auf der Welt.« Kurz blieb sein Blick an einem Jungen hängen, der ausgestreckt auf seinem Bett lag und vorgab, nicht zuzuhören. Bottle Top nannten sie ihn. Jonas wandte sich wieder an die anderen Jungen, die nun im Schneidersitz auf dem Boden saßen. »Aber der einzige, den er getroffen hat, war Billy Shrike.«
    »Billy Shrike?«, fragte der Neue unbehaglich.
    »Ein Mörder«, flüsterte einer der anderen.
    Die älteren Jungen wussten, dass Jonas schwindelte – Aaron war zu einem Perückenmacher in der Stadt in die Lehre gegeben worden. Aber Jonas war nun mal der älteste Junge, einer der wenigen, die lesen und schreiben konnten, und sein Hirn war ein einziger Gruselalmanach voller Einzelheiten, die er aus Flugschriften und Faltblättern zusammengesammelt hatte, die die reichen Herren manchmal im Chorgestühl der Kapelle liegen ließen. Er konnte einem alles sagen – von den Namen der Verbrecher im Newgate Gefängnis bis zu den Lebensläufen derer, die zum Tod am Galgen verurteilt waren. Aber Billy Shrike war seine furchterregendste Schöpfung: Er war einer, der bei Nacht über die Wiesen schlich und kleine Findelkinder aus ihren Betten riss.
    Jonas strich sich das Haar aus den Augen und beugte sich zu Tobias hinunter. »Bei Black Mary’s Hole hat er Aaron dann aufgelauert, der Schurke, und ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte er. »Kalt lächelnd … und mit einem rostigen Messer.«
    Der Junge, der Aarons Bett geerbt hatte, rannte zum Nachttopf in der Ecke.
    Jonas’ Stimme verfolgte ihn. »Hinterher hat Billy seinen Kopf in den Galgenbaum gehängt, damit er dich immer im Auge behalten kann, Tobias. Und auch als Warnung für uns, dass wir dich nicht weglaufen lassen. Wenn du das nämlich tust, verfolgt er dich, und dann …«
    »Hört auf! Ihr macht ihm Angst!«
    Die Gesichter drehten sich zu Bottle Top um, der jetzt auf seinem Bett stand. In seinem zerknitterten weißen, bis an die Knie reichenden Nachthemd erinnerte er an einen Racheengel – nur dass seine Füße schmutzig waren und sein flachsblondes Haar strubbelig im Mondschein leuchtete. Beim Sprechen entstand bei ihm immer ein kleiner Zischlaut, denn einige seiner Zähne waren angeschlagen oder löchrig.
    Jonas ging auf ihn zu, und einen Moment lang starrten die beiden Jungen einander ins Gesicht; dann blickte Jonas zu dem neuen Jungen in der Ecke.
    »Haben wir dir Angst gemacht, Tobias?«, fragte er mit falscher Freundlichkeit.
    Tobias, der zusammengekauert auf dem Boden saß, schaute von einem Jungen zum andern. Er sah, wie sich die kleine Gruppe um ihren Anführer scharte, und schluckte seine Tränen hinunter.
    »Nein«, murmelte er. »Ich hab keine Angst.«
    »Pah!«, rief Bottle Top, ließ sich wieder auf sein Bett fallen und rollte sich mit dem Gesicht zur Wand. »Soll euch doch alle der Teufel holen!«
    »Pst! Da kommt jemand«, rief eine Stimme von der anderen Seite des Schlafsaales. Cirrus hatte das Ohr dicht an die Tür gepresst und lauschte auf jedes Geräusch. Als er die schweren Schritte des Heimvorstehers auf der Treppe hörte, wich er zurück.
    Schnell und lautlos legten sich alle in ihre Betten, während Cirrus von Fenster zu Fenster huschte und die großen Holzläden schloss, die die Jungen zurückgeklappt hatten, um das helle Mondlicht einzulassen. Er warf einen flüchtigen Blick über die in der Dunkelheit liegenden Wiesen und die Hügel dahinter. Dann, als er zum letzten Fenster kam, sah er den Galgenbaum.
    Tatsächlich war dort zwischen den obersten Ästen ein Schatten in der Form eines Schädels; doch jetzt stand neben dem Baum auch unverkennbar die Gestalt eines Mannes. Genau konnte Cirrus ihn nicht erkennen, aber er schien einen langen schwarzen Mantel zu tragen – ganz wie ein Straßenräuber – und einen Dreispitz, der die Stirn teilweise verdeckte. Seine Hände wölbten sich um eine kleine kreisrunde Flamme, die einen flackernden Lichtschein auf den freien Teil seines Gesichts
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