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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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warf. Erst dachte Cirrus, es sei eine Laterne, doch während er noch hinsah, löste sich die Flamme langsam aus den Fingern des Mannes und stieg in die Luft auf.
    Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht.
    Cirrus fuhr herum und sah einen dünnen Lichtstreifen unter der Tür. Hastig schloss er den letzten Holzladen, war in einem Satz bei seinem Bett und schlüpfte unter die Decke. Er lag reglos und hoffte, sein pochendes Herz würde ihn nicht verraten.
    Licht drang in den Raum, und die kleine gedrungene Gestalt des Heimvorstehers, Mr Chalfont, erschien. Mit einer Kerze in der Hand schritt er die Reihen der Betten im Schlafsaal ab und warf einen prüfenden Blick auf die Jungen, die scheinbar alle friedlich schliefen und laut und gleichmäßig atmeten.
    Cirrus blinzelte unter der Decke hervor, sah den näher kommenden Kerzenschein und hielt die Luft an, als das Licht ausgerechnet über seinem Kopf kurz verharrte. Er konnte den vertrauten Geruch des Vorstehers nach Weinbrand und Pfeifentabak riechen und musste wieder an jene Nächte vor vielen Jahren denken, als Mr Chalfont ihn beiseitegenommen und ihm die Schätze in seinem Arbeitszimmer gezeigt hatte. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen, nicht älter als vier oder fünf, und der persönliche Ingwervorrat des Vorstehers, den dieser in einer Dose in seinem Schreibtisch aufbewahrte, hatte ihn wesentlich mehr interessiert als die dramatischen Ozeanbilder an den Wänden.
    »Gute Nacht, Jungen«, sagte Mr Chalfont schließlich und riss Cirrus aus seinen Gedanken. »Schlaft gut.«
    Er ging durch den Raum, schloss die Tür hinter sich und sperrte ab.
    Im Nu war Cirrus wieder am Fenster und schaute hinaus. Die Gestalt mit der Laterne – falls es eine Laterne gewesen war – war verschwunden und der Baum nur noch eine scharfe Silhouette, ein einsamer Schatten an der Landstraße. Cirrus warf einen kurzen Blick über die Wiesen, aber auch sie lagen verlassen. Von dem geheimnisvollen Fremden keine Spur.
    »Wonach schaust du?«, fragte eine ängstliche Stimme hinter ihm. Tobias hatte sich im Bett aufgesetzt und beobachtete ihn mit feuchten Augen. »Ist es wirklich Aarons Geist?«
    Die anderen Jungen fingen an zu lachen und stöhnten und seufzten wie Geister unter ihren Decken, doch Cirrus achtete nicht auf sie, sondern tappte zum Bett des Kleinen hinüber.
    »Es ist nichts«, sagte er sanft und deckte ihn zu. »Hier kann dir nichts passieren. Schlaf jetzt.«
    Leicht fröstelnd trat er wieder ans Fenster, schaute noch einmal hinaus, und erst als er absolut sicher war, dass niemand dort stand, ging er zu seinem Bett neben dem erloschenen Kamin in der Ecke. Neben ihm murmelte Bottle Top leise vor sich hin, irgendetwas von Jonas und dem Galgenbaum.
    »Wollen wir uns morgen hinausschleichen und es ihm zeigen … was meinst du, Cirrus?«, sagte er.
    Aber Cirrus hörte nicht zu. Er dachte an andere Dinge: an die unheimliche Gestalt unter dem Baum und an die kugelförmige Flamme, die eine Zeit lang in der Luft geschwebt war.
     

 

     

Das Mädchen
hinter dem Vorhang
    Am nächsten Morgen, als Pandora gerade eines der Fenster im oberen Stockwerk putzte, sah sie zwei Jungen, die sich vom Heim davonstahlen. Sie kletterten auf den Apfelbaum im hinteren Teil des Gartens, knoteten ein Seil an einen der überhängenden Äste und sprangen über die Mauer auf die andere Seite.
    Dann waren sie aus ihrer Sicht verschwunden.
    Während sie eine Weile aus dem Fenster schaute und darauf wartete, dass sie wieder auftauchen würden, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild in der Glasscheibe. Ein Mädchen mit trotzigem Gesichtsausdruck und scheußlicher Frisur – ein Opfer von Mrs Kickshaws Haarschneidekünsten – starrte ihr entgegen. Pandora zog eine finstere Grimasse und runzelte die Stirn. Warum musste sie so aussehen, sich so anziehen und tagaus, tagein die gleichen langweiligen Hausarbeiten verrichten, während die Jungen ungehindert draußen umherstreunen konnten? Das war nicht gerecht.
    Sie zupfte an der scharlachroten Borte ihres plumpen braunen Kleides, und wie von selbst reihten sich die Antworten in ihrem Kopf aneinander: weil sie ein Mädchen war; weil sie ein Findelkind war; weil der Heimvorsteher sie kurz nach ihrer Geburt gütigst aufgenommen, ernährt und gekleidet hatte; und weil es für sie keinen anderen Ort auf der Welt gab …
    Entmutigt seufzte sie auf und sah ihre Doppelgängerin hinter dem trüben Fleck auf der Scheibe verschwinden. Dann erinnerte sie sich an den Lappen
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