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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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zu viele Geschichten hat er schon gehört von Seeleuten, die gewöhnliches Leuchten für übernatürliche Erscheinungen auf See gehalten haben. »Nein, Sir. Da war nichts. Nichts außer Eis und Öde.«
    Der Kapitän denkt lange nach. »Nun gut«, sagt er schließlich. »Wenigstens hast du uns einen günstigen Wind beschert. Dafür müssen wir dir wohl dankbar sein.«
    Der Junge hebt den Kopf. Erst jetzt spürt er die leichte Brise über seine Wangen streichen.
    Durch sein Fernglas blickt der Kapitän prüfend zum Horizont, findet jedoch nichts von Interesse und reicht das Instrument an Mr Whipstaff zurück. Mit sichtlichem Widerwillen wendet sich der Kapitän an seinen ersten Offizier. »Sagen Sie den Männern, Mr Whipstaff, sie sollen Segel setzen. Wir machen uns noch heute auf nach New Holland. Ich habe genug von diesem verfluchten Klima.«
    Diese Ankündigung wird mit Jubelrufen begrüßt, und schon bald hissen die Männer die Segel, die in dem rätselhafterweise aufkommendem frischen Wind flattern und sich blähen, als könnte die eisige Landschaft es kaum erwarten, das Schiff fortzuschaffen.
    »Und du, Flux«, sagt der Kapitän und beugt sich herab, um allein mit James zu sprechen, »bist entweder ein unglaublicher Glückspilz oder eine verdammt treue Seele. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
    »Ja, Sir.«
    »Nun geh an deine Arbeit. Ich werde ein Auge auf dich haben.«
    »Ja, Sir.«
    Bald darauf, als das Schiff sich bereits durch die Wogen kämpft, schleicht James zum Heck und sieht die Eisberge in der Ferne kleiner werden. Schließlich verschwinden sie endgültig hinter dem Horizont. Dass dicht neben ihm jemand steht, bemerkt er erst nicht.
    »Du hast da oben was gesehen, oder?«, sagt Felix, dessen rotbraunes Haar im Wind flattert. Wie die meisten Matrosen trägt er es am Hinterkopf zusammengebunden – was bei ihm allerdings mehr wie ein ausgefranstes Seil denn wie ein Pferdeschwanz aussieht.
    James, der tief in Gedanken versunken ist, weiß nur zu gut, dass Felix sich nicht von der Stelle rühren und nicht von seiner Seite weichen wird, bevor er ihm sein Geheimnis entlockt hat. Ein tiefes Schweigen verbindet beide Jungen: das Band der Findelkinder. Zum ersten Mal in diesen Stunden gelingt James ein Lächeln.
    »Ja, Felix. Etwas Sonderbares. Und ich würde mich nicht wundern, wenn es etwas wirklich Mächtiges war«, sagt er und starrt in die aufgewühlten Wellen hinter dem Schiff, die alle Erinnerung an ihre Fahrt wegspülen. Als seine Hand nach der Terrella unter seiner Jacke tastet, spürt er ein ungewöhnliches Kribbeln in den Fingern.
    »Ich glaube«, sagt er schließlich, »ich habe den Atem Gottes gesehen.«
     

27 Jahre später
London 1783
     

     

Der Galgenbaum
    Schon immer hatte der Galgenbaum eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Kinder ausgeübt. Die schwarze knorrige Eiche stand an einer Wiese am Stadtrand, nicht weit von der Schotterstraße, die Richtung Norden in die Hügel von Hampstead und Highgate führte. Aus den oberen Fenstern des Findelhauses war die Eiche deutlich zu sehen, und nichts liebten die Kinder mehr, als sich im Zauber des Mondscheins aneinanderzudrängen und flüsternd unheimliche Geschichten über den Baum zu erzählen.
    »Seht ihr die Schatten in den obersten Ästen?«, sagte Jonas eines Nachts, als sich die Jungen zum Schlafengehen fertig machten. »Wisst ihr, was das ist?«
    Die Jungen drückten sich dichter ans Fenster, hauchten mit ihrem Atem Gespenster an die Scheibe. Sie nickten, ja, in der Dunkelheit ließ sich ein kleiner runder Fleck erkennen.
    »Was ist das, Jonas?«
    »Erzähl.«
    Jonas’ Stimme klang dunkel und unheimlich. »Das ist der Kopf von Aaron«, sagte er. »Der Kopf von dem, der früher in diesem Bett geschlafen hat.«
    Er zeigte auf ein schmales Bett, eines von vielen im Raum, und entlockte damit dem kleinen Jungen, der jetzt darin schlief, einen entsetzten Aufschrei. Kaum fünf Jahre alt, hatte der Kleine erst vor Kurzem seine Amme auf dem Land verlassen und war noch nicht an das Leben im Schlafsaal der Jungen gewöhnt. Angstvoll riss er die Augen auf, und dicke Tränen fielen auf sein Nachthemd.
    Stimmengewirr erfüllte den Raum.
    »Was ist passiert, Jonas?«
    »Los, erzähl doch. Bitte.«
    Einen Augenblick stand Jonas vor seinem gebannten Publikum, dann reckte er – ganz wie Pfarrer Fairweather zu Beginn seiner Predigten – den Zeigefinger in die Luft. »Versprecht mir, dass ihr kein Wort erzählt von dem, was ich euch jetzt sage!
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