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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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kaum sichtbar, ein hoch aufragender Steilhang, weit größer, als er je einen gesehen hat. Eine strahlende Wand aus Eis, ein ganzer Kontinent vielleicht, ein Kontinent, scheinbar aus schimmerndem Licht. Er türmt sich über dem Wasser auf und macht den Horizont zu einem wehrhaften Tor in eine andere Welt!
    Der Junge spürt den Schrei tief in seinem Herzen. Er muss den Kapitän warnen.
    Schon ist sein Fuß auf der Strickleiter, bereit für den Abstieg, da lässt ihn etwas zögern. Ein Verdacht, ein Zweifel. Hellblaue Flämmchen sind über dem Mast aufgetaucht, und die Luft flimmert in stiller Intensität. Er blickt auf und sieht, wie ein Strom funkelnder Teilchen über seinen Kopf tanzt, sich in winzigen Lichtpünktchen über den Himmel bewegt und ihn in einen unwirklich strahlenden Schimmer taucht.
    Er steht reglos. Hat er sich das alles eingebildet? Er schaut die kleine Kugel an, die er an einer Schnur um den Hals trägt, seine Terrella, der Miniaturglobus, auf dem er seine Fahrten einzeichnet. Einige der Lichtfünkchen sind herabgesprüht, umkreisen die Kugel und verschwinden wie kleine Blitze im Innern der Terrella.
    Langsam, als wäre sie mit einer Wunder wirkenden Substanz gefüllt, beginnt die Kugel zu leuchten …
    Er ist so verblüfft, dass ihm das Fernglas aus der Hand fällt, es rollt über die kleine Plattform, trudelt durch die Luft und schlägt laut krachend auf dem Deck auf. Im Nu verschwindet das Licht um ihn her, die weite Eisfläche nimmt den Lärm auf und wirft ihn als Echo zurück. Plötzlich lässt ohrenbetäubendes Getöse wie von Kanonenfeuer die Stille explodieren, Eisberge kalben in die See und werfen riesige, sich brechende Wellen gegen das Schiff. Beinahe wird der Junge vom Mast geschleudert.
    Fast unmittelbar darauf ist von unten Gepolter zu hören, Schreckensrufe, Schritte auf den Treppen. Zerzauste Männer erscheinen an Deck, um nach der Ursache des Tumultes zu sehen. Felix steht an der Schiffsglocke und läutet aus Leibeskräften. Das Schiff gleicht einem Bienenstock voller Lärm und Geschäftigkeit.
    Starr vor Schreck klammert sich der Junge an den Mast und schaut in die Ferne, wo zu seiner Bestürzung die Erscheinung, die er gerade gesehen hat, hinter einer Nebelwand verschwunden ist. Eiskristalle wehen in Schwaden an seinen Augen vorbei und trüben seine Sicht. Alles, was von dem Eiskontinent und den Flämmchen über dem Schiff zurückbleibt, ist ein geisterhafter Schein in der Luft.
    »He, du da! Junge!«
    Er blickt hinab und sieht zuerst Mr Whipstaff und dann den Kapitän unter ihm auf dem Deck stehen. Er öffnet den Mund zu einer Antwort, aber die Stimme gehorcht ihm nicht. Ihm fehlen die Worte. Stattdessen schaut er auf seine Terrella, die noch immer schwach schimmernd an seiner Brust hängt, und verbirgt sie tief zwischen den Falten seiner Jacke. Instinktiv weiß er, dass keiner ihm glauben wird: dass glühende Funken vom Himmel gefallen sind und seine Kugel mit Licht erfüllt haben.
    Ängstlicher als während seiner ersten Tage auf See steigt er vom Mast, und obwohl seine Beine zittern, gelingt es ihm irgendwie, den Rest des Weges zum Kapitän hinter sich zu bringen.
    »Also? Was gibt’s?«, sagt ›Smiling Jack‹ mit seinem gewohnt finsteren Stirnrunzeln. Der Kapitän, ein groß gewachsener, vornehmer Mann in den besten Jahren trägt eine dunkelblaue Uniform mit Goldtressen. Seit das Schiff vom Kurs abgekommen und in dieser Eiswüste gestrandet ist, ist er schlecht gelaunt. »Sprich, Junge!«
    »Vollmatrose James Flux«, flüstert Mr Whipstaff in sein Ohr.
    »Deine Erklärung, Flux?«
    James weicht seinem Blick aus. »Mein Fernglas, Sir«, sagt er und fährt sich mit den Fingern durch das gewellte Haar. »Es ist vom Mast gefallen. Es muss … es muss aufs Deck aufgeschlagen sein … tut mir leid, Sir.«
    Der Kapitän blickt kurz von James zu Felix, der verlegen herangekommen ist, die Reste des verbeulten Fernglases in den Händen. Misstrauisch verengen sich die harten smaragdgrünen Augen des Kapitäns.
    »Und du warst der Wachhabende?«, fragt er.
    »Ja, Sir«, sagt James und vermeidet es, Felix anzusehen, um ihn nicht zu belasten.
    »Und nun sag mir, Flux, hast du da oben etwas gesehen, das es rechtfertigen könnte, das ganze Schiff in solchen Aufruhr zu versetzen?«
    Die Frage trifft den Jungen wie ein Peitschenhieb. Er blinzelt, weil er befürchtet, dass ihm jeden Moment die Tränen kommen könnten. Sein Zweifel, ob ihm je ein Mensch glauben würde, verstärkt sich –
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