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Tyrannenmord

Tyrannenmord

Titel: Tyrannenmord
Autoren: Roy Jensen
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1. Nordlicht-Duo
    Schmidt genoss die morgendliche Kühle und die frische Brise, die von der Hafenspitze heraufwehte. Von der Marienstraße aus, wo seine Wohnung lag, war es nur ein kurzer Fußweg bis zu seiner Arbeitsstelle, der Flensburger Bezirkskriminalinspektion am ZOB.
    Hauptkommissar Paul Schmidt, im einstigen Hamburger Kollegenkreis auch Schmidtchen Schleicher genannt, was er seinen auf den Präsidiumsfluren unverwechselbar quietschenden Kreppsohlen zu verdanken hatte, hatte schon immer ein Faible für den hohen Norden gehabt.
    Dennoch wusste er im Nachhinein die Vorzüge zu schätzen, die er durch sein früheres Büro genossen hatte, welches sich damals hoch oben, im elften Stock des früheren Polizeipräsidiums, am Berliner Tor befunden hatte.
    Der Weitblick über die Großstadt war gigantisch gewesen. Er reichte von dem rechts ins Bild fallenden, hanseatischen Kontorhausviertel im Stil der Konservativen Moderne bis weit über die Speicherstadt und die Deichtorhallen hinaus. Ruhte sein Blick eben noch auf entfernten Industrieanlagen, so konnte er sich im nächsten Moment schon zwischen den grauen Stahlstreben der Elbbrücken verfangen, bis er sich endgültig im Zinnen-Wirrwarr der dunklen, bizarren Nikolaikirchturmruine verlor.
    Seine damalige Frau Ruth und er hatten nördliche Breiten betreffend oft und gerne gemeinsame Pläne geschmiedet. Bei allen Vorzügen, die Hamburg als Großstadt zu bieten hatte, reizte sie beide eher die Überschaubarkeit des baulich reizvollen Flensburg und die liebliche Landschaft Angelns, die bis direkt an die Förde reichte. Die unmittelbare Nähe zu den Skandinavischen Ländern versprach zudem erlebnisreiche Reisen auf ihrer guten, alten Kawasaki.
    Kurze Zeit später auf einer Schwedenreise von Hamburg aus schlug das Schicksal erbarmungslos zu und machte alle weiteren, gemeinsamen Pläne in einem Sekundenbruchteil zunichte. Ein Wagen hatte riskant überholt und zwang ihr Motorrad in den Straßengraben. Seine Frau wurde aus dem Soziussitz geschleudert und prallte gegen einen Strommasten. Während Schmidt, bis auf ein paar Schürfwunden, weitgehend unverletzt geblieben war, verstarb Ruth bereits in der folgenden Nacht in einem Malmöer Krankenhaus.
    Die Erinnerung daran war selbst heute noch nicht frei von Schmerzen. Damals hatte ein Arzt mit einfühlsamen Worten versucht, ihn mit der unverrückbaren Tatsache zu konfrontieren, dass das Leben seiner Frau nicht mehr zu retten gewesen war. Anfangs hatte er dies gar nicht realisieren wollen. Sämtliches Geschehen erlebte er wie in einem unwirklichen Traum, in dem aus einem unbekannten Nirgendwo sich nähernd und gleich darauf entfernend gedämpfte Laute und Stimmen ohne ersichtliche Ordnung um ihn herum zu vagabundieren schienen.
    Die Rückfahrt war von zahlreichen Erinnerungslücken durchzogen. Alles geschah lediglich mechanisch, als befände er sich wie ein Insekt unter dem Eindruck des eigenen Totstellreflexes.
    Zu Hause überschwemmte ihn eine nicht enden wollende Trauer. Damit nicht genug, bohrten in ihm gnadenlose Schuldgefühle, denn er hatte Ruth erst zur Reise überreden müssen, weil sie ursprünglich aus beruflichen Gründen daheimbleiben wollte.
    Seine Frau hatte sich nie ein steinernes Monument auf ihrem Grab vorstellen wollen und so fand sie ihre letzte Ruhe in einem Friedwald am Rande der Großstadt.
    Der Unfallverursacher wurde übrigens nie gefasst, was Schmidt neben den kaum zu bewältigenden seelischen Schmerzen zusätzlich mit derartigem Grimm erfüllte, dass er kaum wieder auf die Beine kam.
    Um der Ablenkung willen, stürzte Schmidt sich schließlich als Erstes in seine Arbeit, wie es Männer mit Problemen meistens taten. Doch blieb sein eigentliches Dilemma bestehen, und da ihm die Trauerarbeit nur unzulänglich gelang, weil sie eben ihre Zeit brauchte, kapselte er sich zunehmend von seiner Außenwelt ab. Er fing an, sich mit Alkohol zu betäuben, wurde zeitweise zum Kettenraucher und eine erschreckend gleichförmige Lethargie ergriff immer mehr Besitz von ihm. Zudem kostete es ihn erhebliche Mühe, seinen desolaten Zustand besonders gegenüber seiner beruflichen Umgebung zu verbergen.
    Als er schon an Suizid dachte, weil er meinte, seine Arbeit nicht mehr schaffen zu können, klingelte eines Abends das Telefon völlig unerwartet. Am anderen Ende der Leitung erkannte er die Stimme eines früheren Kollegen, mit dem er zusammen die Polizeischule absolviert hatte und seitdem in Freundschaft verbunden geblieben
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