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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Vergangenheit flackerten vor seinem inneren Auge auf, vermischten sich mit Wahnvorstellungen. Zweifelsfrei eine Folge des Giftes, mit dem die Stacheln getränkt waren. Und dann, mit unauslöschlicher Gewissheit, wurde ihm bewusst, dass er sterben würde. Aus, vorbei. Seine Reise, sein ganzes Wissen, umsonst. Was für ein Jammer!
    Als er Minuten später in ein Fangnetz fiel, war er bereits ohnmächtig. Er spürte nicht, wie das kunstvoll geflochtene Gewebe seinen Sturz abbremste und schließlich gänzlich abfing. Er bekam nicht mehr mit, wie sich das schlanke Flugschiff mit den farbigen Markierungen und den geblähten Segeln näherte. Er bekam auch nichts davon mit, wie ein Hebearm ausgefahren wurde und ihn an Bord holte.
    Als sich seine Umhängetasche von seinen Schultern löste und tief unter ihm in die rauschenden Fluten des Colca klatschte, war er bereits auf dem Weg in tiefes Vergessen.



1
     
    Berlin, drei Monate später …
     
    Von dem Augenblick an, als Oskar den Mann zum ersten Mal sah, wusste er, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Die Erscheinung schlug ihn sofort in seinen Bann. Einmal abgesehen von der beeindruckenden Größe – der Kerl war vielleicht eins neunzig groß und breit wie ein Schrank –, seinem hohen, schlanken Zylinder, dem pechschwarzen Ledermantel und den eisenbeschlagenen Stiefeln, war es vor allem der prächtige Spazierstock, der seine Aufmerksamkeit erregte. Wie alles an ihm war auch dieser von so allumfassender Schwärze, dass er das Licht gänzlich zu schlucken schien. Einzig der Knauf in Form eines Löwenkopfes leuchtete in einem hellen, strahlenden Goldton. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, doch Oskar erkannte eine scharf geschnittene Nase, die einem Falkenschnabel nicht unähnlich sah, eine schmale Brille sowie glatt rasierte Wangen. Die Haare waren an den Schläfen etwas grau und am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten. Die Augen waren auf die Auslagen eines Fachgeschäftes für Degen, Säbel und Rapiere gerichtet. Etwas Gefährliches umwehte diesen Mann wie ein kalter Wind. Oskar hätte normalerweise einen weiten Bogen um ihn gemacht, wäre da nicht diese unerklärliche Neugier gewesen. Was wollte ein solch wohlhabender Mann in dieser – zugegeben – nicht besonders exklusiven Einkaufsgegend? Was mochte er für einen Beruf haben und, was am Interessantesten war, was mochte er wohl an Wertgegenständen bei sich führen? Andererseits: Der Mann sah nicht so aus, als würde er sich leicht bestehlen lassen. Vielleicht sollte er doch lieber vorsichtig sein.
    Oskar hatte sich schon entschieden, ein anderes Opfer auszuwählen, als sein Auge von einem Detail angezogen wurde. Aus der einen Manteltasche lugte der Zipfel eines hellbraunen Lederetuis hervor. Eines dieser Etuis, die neuerdings aus Paris importiert wurden und in denen man Geld aufzubewahren pflegte. Ein sogenanntes Portemonnaie.
    Die Versuchung war einfach zu groß.
    Er verdrückte sich in einen Hauseingang, holte ein Fläschchen Duftwasser aus seiner Tasche und sprühte sich ein, um den unangenehmen Geruch der Gosse zu überdecken. Er tat dies, ohne lange darüber nachzudenken. Der Trick, als Dieb erfolgreich zu sein, bestand darin, weder wie ein Dieb auszusehen noch wie einer zu riechen. Nichts mieden die wohlhabenden Herrschaften mehr als den Anblick von Schmutz und Armut. Wer in seinem Metier erfolgreich sein wollte, der musste sich eine Arbeitskleidung zulegen. Hose und Jacke aus englischem Tweed, die Schuhe aus gutem Rindsleder, gefertigt in der Schusterei Hambacher &c Co., und auf dem Kopf eine Filzmütze, wie sie gerne von Studenten und Lehrlingen getragen wurde. Oskar war auf den ersten Blick nicht von einem jugendlichen Angestellten zu unterscheiden. Derart getarnt und unter den Arm einen Aktenordner geklemmt, der sein Auftreten als Dienstbote unterstrich, konnte er sich seinen Opfern nähern, ohne dass diese gleich mit angewidertem Gesichtsausdruck die Straßenseite wechselten.
    Mit schnellen Schritten lief Oskar vor einem vorbeifahrenden Pferdegespann auf den gegenüberliegenden Bürgersteig und näherte sich dem Mann. Die Mütze leicht nach unten gezogen und seine Augen beschattend, tat er so, als würde er die Angebote hinter der Fensterscheibe studieren. Als er auf gleicher Höhe war, blieb er stehen. Mit einem anerkennenden Pfiff zwischen den Zähnen sagte er: »Na, das nenn ich mal schöne Klingen, was? So fein blank poliert, dass man sich drin spiegeln kann.«
    Der Fremde bewegte seinen Kopf um
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