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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Autoren: Thomas Thiemeyer
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wenige Zentimeter. Die scharf geschnittene Nase schien seinen Geruch förmlich einzusaugen.
    »Jedes Mal, wenn ich hier langgehe, muss ich sie mir ansehen«, fuhr Oskar fort. »Eines Tages, wenn ich mir genug zusammengespart habe, kaufe ich mir auch so etwas. Das Rapier dort oben gefällt mir am besten. Dort drüben, sehen Sie?« Er deutete mit dem Finger auf eine Waffe mit ziseliertem Griff. »Das wäre meine Traumwaffe. Ich bin sicher, damit würde ich jeden Gegner –«
    »Hast du nichts zu tun?«, knurrte der Mann ungehalten. Seine Hand umschloss den goldenen Knauf seines Spazierstocks.
    »Ach, wissen Sie, ich hab gerade Mittagspause«, sagte Oskar. »Muss nur noch diesen Ordner zur Kanzlei bringen, dann hol ich mir erst mal eine leckere Stulle.« Er klopfte mit der flachen Hand auf die Aktenmappe unter seinem Arm. In diesem Augenblick löste er mit dem Zeigefinger eine verborgene Halterung. Ein Schwall loser, sehr amtlich aussehender Dokumente ergoss sich über das Trottoir.
    »Oh, verdammt.« Er beugte er sich vor und begann, die Blätter einzusammeln, die rings um die Füße des Unbekannten verteilt lagen.
    »Kannst du nicht aufpassen?« Der Mann wollte einen Schritt zur Seite treten, aber Oskar hob die Hand. »Nein, bitte nicht. Bleiben Sie um Himmels willen stehen, sonst treten Sie womöglich noch darauf.«
    Er krabbelte um den Mann herum und klaubte die Blätter zusammen. »Könnten Sie das bitte mal kurz halten?« Er hob einen Stoß Papiere und drückte sie dem Mann in die Hand. »Bitte verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit. Bin gleich fertig.«
    Der Mann, überrumpelt von so viel Aktionismus, griff nach den Blättern und begann, sie zu überfliegen. Genau wie Oskar gehofft hatte. Niemand konnte der Versuchung widerstehen, vertrauliche Papiere zu lesen, besonders, wenn sie für jemand anderen bestimmt waren. In dem Moment, als er seine Augen auf die Dokumente richtete, war Oskars Zeit gekommen. Mit einer geschickten Bewegung griff er in die Manteltasche, zog das Portemonnaie hervor und ließ es in seinem Ordner verschwinden. Dann vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtet hatte, griff rasch nach den restlichen Blättern und stand auf.
    »Oh, Gott sei Dank«, sagte er erleichtert. »Ich habe alle wieder beisammen. Sauber und unversehrt. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich dem Herrn Kanzleirat verunreinigte Papiere hätte aushändigen müssen.«
    »Die sehen ziemlich wichtig aus«, sagte der Mann und gab ihm seine Unterlagen zurück. »Du solltest dich damit beeilen, ehe du noch mehr Unheil anrichtest.«
    »Jawohl, mein Herr«, sagte Oskar und verbeugte sich. »Vielen Dank, mein Herr.« Einige Schritte rückwärtsgehend und sich dabei immer wieder verbeugend, sagte er: »Und bitte entschuldigen Sie meine Ungeschicklichkeit.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in Richtung Oranienburger Straße.
    Er war noch nicht weit gekommen, als er sich zum ersten Mal umdrehte. Es war ein reiner Reflex. Er wollte sehen, ob sein Betrug unbemerkt geblieben war. Der Mann hatte sich von der Schaufensterauslage abgewendet und kam hinter ihm her. Er lief nicht, er brüllte nicht, er ging nur, und zwar im selben Tempo wie Oskar. Seine metallbeschlagenen Schuhe hinterließen ein deutliches Geräusch auf dem harten Pflaster. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm her wie die Schwingen eines Raben.
    Ein Schreck durchfuhr Oskar. Hatte der Fremde den Diebstahl bemerkt? Und wenn ja, warum rief er nicht um Hilfe? Das Verhalten war sehr ungewöhnlich.
    Ruhig, nur ruhig, ermahnte Oskar sich. Vielleicht hatte der Unbekannte nur zufällig seine Richtung eingeschlagen. Aber Vorsicht war bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.
    Oskar machte einen Knick und bog rechts in die Oranienburger ab. Wie für einen Dienstag üblich, war sie angefüllt mit privaten Droschken, Postkutschen, Brauereigespannen und den Wagen der Großen Berliner Pferdeeisenbahn. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Stück zwischen der Charité und der Börse war eine der belebtesten Gegenden Berlins. Ein idealer Ort, um Verfolger abzuschütteln.
    Oskar schlängelte sich zwischen den Fußgängern hindurch, überquerte die Fahrbahn, lief etwa hundert Meter weiter und bog dann links in die Artilleriestraße ab. Hier war es etwas ruhiger. An der Ecke blieb er stehen und erlaubte sich einen weiteren Blick zurück. Er war extra zwischen möglichst vielen Fuhrwerken hindurchgelaufen. Kein Verfolger hätte in diesem Gewimmel den
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