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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Autoren: Thomas Thiemeyer
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schweißnassen Fingern öffnete er die Geldbörse und warf einen Blick hinein.
    Seine Augen wurden groß wie Murmeln. Eine Handvoll Goldmark schimmerte ihm entgegen, dazu noch etliche Silberlinge. Er schüttete den Schatz auf seine Hand und überflog im Geiste die Summe. Einhundertfünfzig Mark in Gold und fünfundvierzig in Silber. Oskar pfiff leise durch die Zähne. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Geld auf einem Haufen gesehen zu haben. Der Mann stank ja vor Reichtum.
    Sein Instinkt hatte ihn also nicht getrogen. Die Frage war nur: Was hatte ein feiner Pinkel wie er in der Krausnickstraße verloren? Das passte einfach nicht zusammen. Aber egal. Wozu sollte er sich den Kopf über solch unbedeutende Dinge zerbrechen? Das Geld gehörte jetzt ihm, das war alles, was zählte.
    Er wollte die Münzen gerade wieder zurücklegen, als er zwischen ihnen ein Stück bleigrauen Metalls schimmern sah. Es glänzte wie angelaufenes Eisen und war an den Rändern etwas verbogen. Oskar hob es hoch, drehte und wendete es. Es sah aus wie ein wertloses Stück Altmetall. Warum aber lag es zwischen all dem Geld? Er konnte keine Erklärung dafür finden. Doch was es auch war, er würde sich später genauer damit befassen.
    Er legte alles zusammen zurück, verschloss das Portemonnaie und steckte es in die Innentasche seines Jacketts. Dann stand er auf. Einen Teil davon würde er dem Geldverleiher Behringer zurückzahlen müssen, aber dafür wäre er dann seine Schulden ein für alle Mal los. Von diesem Fang würde er ein halbes Jahr lang gut leben können. Wer weiß, vielleicht würde er sich sogar ein kleines Appartement mieten. Eine richtige kleine Wohnung, nicht so ein Dreckloch wie das, in dem er gerade hauste.
    Er öffnete das Fenster und kletterte hinaus aufs Dach. Der Himmel über Berlin hatte sich verdüstert. Aus den einzelnen Wolken war jetzt eine dunkle Wand geworden, die sich langsam von Westen her näherte. Ein frischer Wind war aufgekommen, der den Geruch von Regen mit sich brachte. Die Nase prüfend in den Wind hebend, schätzte er, dass es in etwa einer Stunde wie aus Eimern schütten würde. Zeit, die Beute sicher nach Hause zu schaffen.
    Oskar hätte den Weg über die Dächer mit verbundenen Augen gefunden. Leichtfüßig sprang er über Abgründe, folgte Regenrinnen und balancierte auf Dachfirsten, wie es die Schornsteinfeger taten. Er liebte es, hier oben zu sein, den Dreck und Lärm der Straßen unter sich zu lassen und die Menschen dabei zu beobachten, wie sie in Ameisengröße durch die Straßen wuselten. Er liebte den Blick über die Dächer hinweg und das Geräusch, wenn die Kirchenglocken zu läuten begannen. Dann konnte er den Tauben zusehen, wie sie in Schwärmen über der Stadt kreisten, und sich vorstellen, wie es wohl wäre, eine von ihnen zu sein.
    Ein paar Minuten später hatte er das Ende seines Fluchtweges erreicht. Ein schmuddeliges altes Haus an der Oranienburger, schräg gegenüber der Synagoge. Nach vorn hin gab es einige kleine schmiedeeiserne Balkone, die durch Feuerleitern miteinander verbunden waren. An ihnen konnte man bequem hinunterklettern. Nur zwischen erstem Stock und Trottoir fehlte eine Leiter, sodass man die drei Meter bis zum Boden am nahe gelegenen Regenrohr entlangrutschen musste.
    Flink wie ein Affe kletterte er hinunter, griff nach dem Metallrohr und ließ sich auf den Bürgersteig hinab. Die Straße hatte ihn wieder. Den fragenden Blicken einiger Passanten wich er einfach aus und machte sich hoch erhobenen Hauptes auf den Heimweg.
    Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als er von einer schwarz behandschuhten Hand gepackt und in einen Hauseingang gezerrt wurde. »Habe ich dich endlich!«, sagte eine tiefe Stimme.
    Oskar blickte auf. Über ihm ragte drohend die dunkle Gestalt des Mannes mit dem Zylinder auf. Das Gesicht lag im Schatten. Nur die Augen hinter den Brillengläsern leuchteten wie zwei wasserblaue Kristalle. Oskar versuchte sich zu befreien, aber die Hand hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock.
    »Na, na«, sagte die Stimme. »Willst du etwa schon gehen?«
    Die andere Hand hob sich, zur Faust geballt. Oskar wollte schon die Augen schließen, da sah er, dass sich die Hand öffnete. Ein weißes Pulver leuchtete auf dem schwarzen Leder. Ehe er noch darüber nachdenken konnte, was das wohl für ein Zeug war, hob der Fremde die Hand und blies ihm die ganze Ladung ins Gesicht.
    Oskar fühlte ein entsetzliches Brennen in Mund, Augen und Nase. Er musste würgen und
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