Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
sofort merkte, dass er genau Bescheid wusste. Sie war froh, dass er keine Fragen stellte. Auch Adrian schwieg angespannt und sein Gesicht war weiß wie die Gischt. Die Frau, deren Kind Aagard gerettet hatte, lud sie zum Essen ein und sie nahmen dankend an.
Elsa setzte sich in der engen Hütte der Frau an das Feuer, biss in einen Haferkuchen, ohne etwas zu schmecken, und ließ die anderen reden.
»Die Straße nach Osten ist leicht zu finden und auch einigermaßen sicher, solange man nicht von ihr abkommt«, sagte Aagard. »Wenigstens war das vor zwei Jahren so. Und in Wessex kenne ich Leute, bei denen wir unterkommen können. Gleich nach dem Essen brechen wir auf.«
Elsa dachte darüber nach, was sie tun sollte, wenn sie wieder in Dubris war. Ihr Vater besaß nur ein sehr kleines, schlichtes Häuschen. Sein eigentliches Zuhause und sein ganzer Besitz aber war die Spearwa gewesen. Tante Freda, die Schwester des Vaters und Elsas einzige noch lebende Verwandte, würde sie bei sich aufnehmen, aber in ihrem Haus wohnten schon drei Mädchen, die nähten, spannen und sich kichernd über künftige Ehemänner austauschten. Nein! Dort konnte Elsa nicht bleiben. Richtig glücklich war sie nur auf See. Sie würde sich bei einem Schiffer aus Dubris verdingen, bei jemandem, der wusste, dass Kapitän Trymman seine Tochter gründlich in der Schifffahrt unterwiesen hatte.
Noch etwas fiel ihr ein. Sie musste schon deshalb nach Dubris fahren, um sich davon zu überzeugen, dass ihr Vater nicht auf einem anderen Weg heimgekehrt war. Wenn sie wie ein Stück Treibgut gerettet worden war, warum nicht auch er? War er nicht immer nach Dubris zurückgekehrt? Mit vollen Segeln um die Landspitze herum in den dortigen Hafen eingefahren?
Elsa wurde ein wenig leichter ums Herz. Aagards Vermutungen über den Zustand der Straßen interessierten sie nicht. Sie musste zum nächsten Hafen. Der blasse Junge schien nicht mehr nach Gallien reisen zu wollen, diese Verpflichtung war sie also auch los. Vielleicht konnten sie gemeinsam mit dem Schiff nach Osten fahren.
Elsa warf ihm durch die dämmrige Hütte einen Blick zu. Ob er sie begleiten wollte? Vielleicht auch nicht. Er wirkte in sich gekehrt und mit seinen Gedanken beschäftigt, fast als könnte es ihm schaden, sich mit jemandem zu unterhalten.
Zu ihrer Überraschung stand er plötzlich auf und wandte sich an Aagard. Er wirkte entschlossen, wie jemand, der sich zu einer schwierigen Entscheidung durchgerungen hat. Mit zitternden Fingern nestelte er an seinem Kragen herum.
»N-nehmt bitte das, Herr«, stotterte er. »Damit kann ich Euch wenigstens einen Teil Eurer Gastfreundschaft vergelten.«
Aagard nahm den kleinen Gegenstand in die Hand und hob erstaunt die grauen Augenbrauen. Elsa sah eine silberne, wie ein fliegender Vogel geformte Spange auf seinem Handteller liegen.
Er gab dem Jungen die Spange zurück. »Diese Spange würde meine Gastfreundschaft mehrfach vergelten«, sagte er. »So ein großes Geschenk kann ich nicht annehmen. Behalte sie, Adrian, und verstecke sie gut. Ich weiß die Dankbarkeit deiner Familie zu schätzen.«
Verwirrt sah Elsa, wie Adrian röter anlief als ein Radieschen und die Spange wortlos zurücknahm.
Sie verließen Medwel. Elsa rannte hinter Aagard her.
»Herr«, rief sie ihm zu, »ich kann nicht mit Euch kommen. Ich habe beschlossen, dass ich mit dem Schiff nach Hause zurückkehren werde. Ich gehe jetzt zum nächsten Hafen und suche einen Schiffer, der mich kennt.«
Aagard blieb stehen. »Nein!«, erwiderte er heftig und packte Elsa an den Schultern, bevor sie sich wehren konnte. »Du darfst auf gar keinen Fall mit dem Schiff fahren. Ihr beide nicht. Ihr müsst begreifen, dass ihr Feinde habt, die das Meer bewachen. Der Sturm hatte Augen.«
Elsa war, als schwanke der Boden unter ihr. »Aber was soll ich dann tun? Es gibt doch nichts …« Sie verstummte.
Aagards Augen blitzten. »Sobald du ein Schiff betrittst, wird der Drache dich finden. Der Sturm hat ihn gerufen, und auf dem Meer entkommst du ihm nicht. Sieh doch, was mit deinem Schiff passiert ist. Kaum ein Balken ist übrig. An Land kann man sich wenigstens verstecken und andere Menschen können einem helfen.«
Drache? Elsa runzelte die Stirn. Hatte sie eben richtig gehört? Sie richtete den Blick fragend auf Adrian und zu ihrer Bestürzung nickte er.
»Aagard hat recht, Elsa«, sagte er. »Wir müssen den Landweg nehmen.«
Elsa starrte ihn wie betäubt an. Ein Drache verfolgte sie auf dem
Weitere Kostenlose Bücher