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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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kalten Windes. Er spürte nur seinen eigenen Rhythmus und seine eigene Wärme, eine Art Panzer, der ihn gegen Zeit und Raum schützte. Seine Kräfte funktionierten. Seine Intelligenz funktionierte. Er konnte davonkommen. Der Mensch ist der beste Freund des Menschen.
    Plötzlich gewahrte er etwas zu seiner Rechten. Eine zweite Gruppe. Das gleiche Bataillon mit weißen Gesichtern und schwarzer Kleidung. Die Stöcke, die durch die Luft peitschten. Der unvermeidliche Vormarsch.
    Angst und Überraschung versetzten ihm einen Stoß in die Seite. Unmöglich, weiterzulaufen. Er rutschte aus. Fiel auf dem Hang hin, schlug sich das Gesicht auf und biss in das Moos, das hier das kurze Gras ablöste. Er rappelte sich auf, unterdrückte ein Stöhnen und starrte mit Tränen in den Augen zum Horizont. Seine Panik wuchs weiter. Einige Hundert Meter vor ihm endete die Heide. Ein Steilhang machte allen Hoffnungen ein Ende.
    Der Ausgang war absehbar. Die beiden Gruppen von Kindern würden sich vereinigen, unerbittlich vorrücken und ihn an den Rand des Abgrunds drängen. Volokine kam ein anderer Gedanke. Es waren schließlich nur Kinder. Drei Ohrfeigen, und er würde die Frontlinie durchbrechen, um in umgekehrte Richtung zu fliehen. Leicht. Aber die Kinder, die mit den erwachsenen Jägern in Verbindung standen, würden seine Position durchgeben, und er wäre erledigt. Er konnte nicht mehr. Sein verletztes Bein zehrte an seiner Kraft. Sein Oberkörper brannte. Sein Kopf steckte in einem Schraubstock aus Fieber.
    Auf die eine oder andere Weise musste er sich ausruhen.
    Sich verstecken.
    Da tauchte plötzlich die Rettung zu seiner Linken auf.
    Ein Sumpf, aus dem Hunderte spitzer Felsen ragten.
    Humpelnd und sich möglichst dicht an den Hang haltend, gelangte Volokine in das natürliche Refugium. Kein Sumpf, wie er geglaubt hatte. Nur gefrorene Erde, auf der diese flechtenüberzogenen scharfkantigen Steinplatten gewachsen zu sein schienen. Sie glichen kleinen Köpfen, die aus einem Teich auftauchten und an denen grünliche Partikel hafteten. Volo entschied sich für einen Block von einem Meter Höhe, der in Richtung der Felswand geneigt war, und begann zu graben. Er wollte sich unter dem Stein verstecken, auch auf das Risiko hin, den ganzen Tag Erde zu fressen.
    Er grub.
    Er grub weiter.
    Die Finger blutig. Die Fingernägel umgebogen. Kurzatmig. Die Erde war gefroren. Der metallische Geruch der Flechten stieg ihm zu Kopf. Schließlich war die Nische so groß, dass er sich hineingleiten lassen konnte. Er hatte sich bemüht, die ausgehobene Erde um den Felsen zu verteilen. Außerdem hatte er eine gefrorene, fast einen Quadratmeter große Moosplatte aufbewahrt, um sich damit zu tarnen. Er ließ sich in das ausgehobene Loch gleiten, zog die Moosplatte über sich und konnte sich plötzlich gut vorstellen, wie sich die Wildschweine, die auf Korsika gejagt wurden, fühlen mussten.
    Er wartete.
    Der Herzschlag, die Auskühlung seines Körpers waren für ihn das Maß des Vergehens der Zeit.
    Nichts.
    Er wartete noch immer.
    Er war in der Erde verschwunden. In der Finsternis. Und sehnte sich jetzt nach dem Nichts. Nicht mehr existieren. Nicht mehr atmen. Die Dämonen an sich vorüberziehen lassen und dann in die entgegengesetzte Richtung loslaufen.
    Plötzlich schlagende Stöcke.
    Schläge ins Gras, an die Felsen.
    Die brüllenden Kinder waren ausgeschwärmt.
    Volo kauerte sich zusammen. Vergrub sich in seinem Versteck. Er nahm die Erschütterungen der Stöcke war, die überall herumstocherten. Er stellte sich vor, wie die Kinder jeden Fels in Augenschein nahmen, um jeden Block herumgingen, in der Erde und im Moos scharrten. Wie standen seine Chancen?
    Plötzlich fiel Licht in sein Versteck.
    Ein Blinzeln, und er sah die kleine Gestalt, die sich vor dem Himmel abzeichnete.
    Ohne nachzudenken, streckte er seinen Arm hinaus.
    Zog den Jungen in sein Versteck.
    Bevor der Knabe schreien konnte, schlug er zu.
    Schlug noch einmal zu.
    Bis er den weichen, leblosen Körper in seinen Armen spürte.
    Volo griff nach der Flechtenplatte, seinem einzigen Schutz, und zog sie wie ein Leichentuch über sich. Er spürte neben sich die Wärme des bewusstlosen Jungen. Und er sagte sich, dass sich der Kreis seiner Ermittlungen geschlossen habe. Jetzt schlug er schon Kinder nieder. Und womöglich war er sogar gezwungen, Kinder zu töten, um zu überleben.
    Unmöglich zu sagen, wie viel Zeit verging.
    Aber niemand sonst scheuchte ihn in seinem Fuchsbau auf.
    Vorsichtig
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