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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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seiner Erregung sprach er leise, als hätte er Angst, eine Messe zu stören.
    »Der ehrwürdige Vater Sarkis.«
    »Vor uns? Wieso Sie?«
    »Ich bin Mitglied der Kirchengemeinde.«
    Der Mann runzelte die Brauen, sodass sie eine geschlossene schwarze Linie bildeten.
    »Sie befinden sich in der armenischen Kathedrale Saint-Jean-Baptiste«, sagte Kasdan, »ich bin Armenier.«
    »Wie kommt es, dass Sie so schnell hier waren?«
    »Ich war schon da. Im Verwaltungsgebäude auf der anderen Seite des Hofs. Als Vater Sarkis den Leichnam entdeckte, hat er mich geholt. Ganz einfach.« Er hob seine Hände. »Ich habe in meinem Auto nach Handschuhen gesucht und dann die Kirche durch das Hauptportal betreten. Wie Sie.«
    »Und Sie haben nichts gehört? Ich meine, vorher. Geräusche, die auf einen Kampf hindeuten?«
    »Nein, im Verwaltungsgebäude hört man nicht, was sich in der Kirche abspielt.«
    Vernoux griff mit der Hand in seinen Blouson und zog ein Handy heraus. Kasdan starrte auf das Gliederarmband und den Siegelring. Ein echter Polizist. Plump. Vulgär. Dennoch rührte ihn der Anblick dieser Dinge irgendwie an.
    »Was tun Sie?«, fragte er.
    »Ich rufe den Staatsanwalt an.«
    »Schon erledigt.«
    »Was?«
    »Ich habe auch meine Teams verständigt.«
    »Ihre Teams?«
    Draußen, in der Rue Goujon, heulten Sirenen. Auf einen Schlag füllte sich die Kirche mit Technikern der Spurensicherung in weißen Overalls, während andere, mit verchromten Köfferchen, die Empore hinaufstiegen. Der Mann an der Spitze grinste unter seiner Kapuze. Hugues Puyferrat, einer der leitenden Beamten der Spurensicherung:
    »Kasdan, du bist wirklich nicht totzukriegen!«
    »Die Leiche hat noch ’nen Steifen«, meinte der Armenier schmunzelnd. »Machst du mir das Rundumpaket?«
    »Geht klar!«
    Vernoux’ Blick wanderte zwischen dem Mann vom Erkennungsdienst und dem Ex-Polizisten hin und her. Er wirkte verblüfft.
    »Gehen wir runter! Hier gibt’s nicht genug Platz für alle«, meinte Kasdan.
    Ohne die Antwort abzuwarten, stieg er die Treppe hinunter und kehrte zurück ins Kirchenschiff, während Techniker bereits zwischen den Stühlen Fingerabdrücke abnahmen und mit versiegelbaren Tüten hantierten. Blitzlichter knatterten in den vier Ecken der Kirche.
    Vater Sarkis tauchte auf der rechten Seite der Apsis auf. Weißer Kragen, schmuckloser Anzug. Er hatte schwarze Augenbrauen und graues Haar und ähnelte Charles Aznavour. Zu Kasdan gewandt murmelte er:
    »Es ist unglaublich. Ich kann es noch gar nicht fassen.«
    »Wurde nichts gestohlen? Hast du es überprüft?«
    »Hier gibt’s nichts, was man stehlen könnte.«
    Der ehrwürdige Vater sagte die Wahrheit. In der Armenischen Kirche ist die Bilderverehrung verboten. Keine Statuen, kaum Gemälde. Abgesehen von einer Öllampe und einigen Thronen mit Goldverzierungen gab es in diesem Gotteshaus keine Kultgegenstände.
    Kasdan musterte den Geistlichen schweigend. Der alte Mann hatte schon einiges durchgemacht. Seine verschleierten schwarzen Augen verrieten einen tiefen Fatalismus, der niemals fern ist, wenn man einem Volk angehört, das zweitausend Jahre lang verfolgt wurde. Wenn man selbst im Exil gelebt hat, wenn die eigenen Verwandten einem Völkermord zum Opfer fielen – und wenn die Urheber dieses Völkermords ihre Verbrechen nicht einmal zugeben wollen.
    Er drehte sich um. Vernoux, der einige Meter entfernt mit dem Rücken zu ihm stand, wisperte in sein Handy.
    Kasdan näherte sich ihm und spitzte die Ohren:
    »Ich weiß nicht, was er hier treibt … Ja … Wie schreibt man das? Keine Ahnung. Wie Kasten, oder?
    Der Armenier hinter ihm lachte laut auf:
    »Nein, wie Cassata!«

KAPITEL 2
    Das erste Gemälde zeigte die armenischen Anführer in der Schlacht von Avarair im Jahr 451 – damals hatten sich die Armenier gegen die Perser erhoben. Das zweite Gemälde war ein Porträt des heiligen Mesrob Maschtoz, der das armenische Alphabet erfunden hatte. Auf dem dritten sah man berühmte Gelehrte, die während des Völkermords zwischen 1915 und 1917 deportiert und ermordet worden waren.
    Aufmerksam betrachtete Éric Vernoux diese bärtigen Figuren, die auf die Hofmauer gemalt worden waren, während zwanzig Kinder ihre Kreise um ihn zogen und Fangen spielten. Er wirkte so verwirrt, als wäre er gerade auf dem Mars gelandet.
    »Heute ist Mittwoch«, erklärte Sarkis. »Die Katechismus-Stunde ist gerade zu Ende. Normalerweise nehmen die meisten Jungen an der Chorprobe teil. Eigentlich hätte sie schon
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