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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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beginnen müssen. Ihre Eltern wurden verständigt, sie kommen, um ihre Sprösslinge abzuholen. Bis dahin können die Kinder doch genauso gut hier spielen, oder nicht?«
    Der Kripo-Beamte nickte wenig überzeugt. Er blickte hinauf zu dem großen Kreuz aus Tuffstein, das die Mauer neben dem Fresko schmückte.
    »Sind Sie … Katholiken?«
    Kasdan antwortete mit einem Anflug von Boshaftigkeit:
    »Nein. Die Armenische Apostolische Kirche ist eine autokephale orthodoxe Ostkirche. Sie gehört zu den Kirchen der drei Konzile.«
    Vernoux’ Augen weiteten sich.
    »Historisch gesehen«, fuhr Kasdan fort, wobei er die Stimme erhob, um die Schreie der Kinder zu übertönen, »ist die Armenische Kirche die älteste christliche Kirche. Sie wurde im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von zwei Aposteln gegründet. Später kam es zu zahlreichen Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Christen. Konzile, Konflikte … So sind wir beispielsweise Monophysiten.«
    »Mono… was?«
    »Für uns war Jesus Christus kein Mensch. Er war der Sohn Gottes, das heißt, er war ausschließlich göttlicher Natur.«
    Vernoux schwieg. Kasdan lächelte. Es belustigte ihn immer wieder, welches Befremden die armenische Welt auslöste – ihre Regeln, ihre religiösen Überzeugungen, ihre Andersartigkeit. Der Polizist zog verärgert sein Notizbuch heraus. Er hatte es satt, belehrt zu werden.
    »Gut. Das Opfer hieß …« Er studierte seine Aufzeichnungen. Wilhelm Götz, nicht wahr?«
    Sarkis nickte mit verschränkten Armen.
    »War er Armenier?«
    »Nein, Chilene.«
    »Chilene?«
    »Wilhelm gehörte nicht unserer Gemeinschaft an. Vor drei Jahren ist unser Organist in seine Heimat zurückgekehrt. Wir haben nach einem Ersatz gesucht. Ich hörte von Götz, einem Organisten und Musikwissenschaftler. Er hatte bereits mehrere Chöre in Paris geleitet.«
    »Götz …«, wiederholte Vernoux in zweifelndem Ton, »hört sich nicht gerade chilenisch an …«
    »Ein deutscher Name«, mischte sich Kasdan ein, »ein großer Teil der chilenischen Bevölkerung ist deutscher Abstammung.«
    Der Polizist runzelte die Stirn:
    »Nazis?«
    »Nein«, antwortete Sarkis lächelnd, »die Vorfahren von Götz haben sich, glaube ich, Anfang des 20. Jahrhunderts in Chile niedergelassen.«
    Der Hauptmann klopfte mit seinem Filzstift auf sein Notizbuch:
    »Ich blicke da nicht durch. Chilene, Armenier – was verbindet sie?«
    »Die Musik«, antwortete Sarkis.
    »Die Musik und das Exil«, ergänzte Kasdan. »Wir Armenier wissen, was es heißt, ein Flüchtling zu sein. Wilhelm war Sozialist. Er ist unter dem Pinochet-Regime verfolgt worden. Hier bei uns hat er eine neue Familie gefunden.«
    Vernoux machte sich Notizen. Er ahnte, dass er sich da einiges aufgehalst hatte. Und doch spürte Kasdan, dass er Blut geleckt hatte.
    »Hatte er Familie in Paris?«
    »Weder Ehefrau noch Kinder, soweit ich weiß …« Sarkis überlegte. »Wilhelm war zurückhaltend und sehr diskret.«
    In Gedanken rief Kasdan sich das Bild des Chilenen vor Augen. Der Mann spielte an zwei Sonntagen im Monat während der Messe die Orgel, und er leitete mittwochs die Chorproben. Er hatte keine Freunde in der Ephorie, der Verwaltung der Kathedrale. Ein Mann um die sechzig, schmächtig, unscheinbar. Ein Phantom, das an den Mauern entlangschlich, zweifellos gebrochen durch das Martyrium, das er erlitten hatte.
    Der Armenier horchte auf, als Vernoux fragte:
    »Vielleicht hatte es jemand auf ihn abgesehen!«
    »Nein«, entgegnete Sarkis, »das kann ich mir nicht vorstellen.«
    »Keine politischen Probleme? Oder ehemalige Feinde in Chile?«
    »Pinochet hat sich 1973 an die Macht geputscht. Götz kam in den achtziger Jahren nach Frankreich. Da ist wohl alles verjährt. Im Übrigen wird Chile schon seit Jahren von keiner Militärjunta mehr regiert. Und Pinochet ist kürzlich gestorben. Das sind alles alte Geschichten.«
    Vernoux schrieb noch immer. Kasdan fragte sich, wie groß die Chancen des Polizisten waren, den Fall zu behalten. Normalerweise würde der Staatsanwalt die Mordkommission mit den Ermittlungen betrauen, es sei denn, Vernoux überzeugte ihn davon, dass er über stichhaltige Informationen verfügte und die Ermittlungen zügig zum Abschluss bringen könnte. Kasdan wettete auf diese Version. Er hoffte es jedenfalls. Mit dem Muskelpaket würde er leichter zurechtkommen als mit seinen ehemaligen Kollegen von der Mordkommission.
    »Was hat er hier gemacht?«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich meine: allein in der
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