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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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runde Brille. Er wirkte eher wie ein Streber als wie ein »Gitarrenheld«.
    Zwischen vier Uhr und halb fünf war Timothée im Hof gewesen, um sich auf dem Handy mit seiner »Freundin« zu unterhalten. Ein letzter Blick auf die Brille. Keine Doppelbödigkeit, keine Geheimniskrämerei.
    »Du kannst gehen«, sagte der Armenier schließlich.
    Die Küchentür fiel leise in Schloss.
    Kasdan betrachtete seine Liste: Fehlanzeige.
    Er hatte seine beste Chance, voranzukommen, vertan.
    19.30 Uhr.
    Kasdan stand auf. Er wusste, wie er weiter vorgehen würde.
    Aber zuerst musste er nach Alfortville fahren – Lebensmittel holen.

KAPITEL 4
    Die Marmorbüsten der ehemaligen Direktoren des Gerichtsmedizinischen Instituts standen in der Eingangshalle des Gebäudes. Orfila (1819-1822), Tardieu (1861-1879), Brouardel (1879-1906), Thoinot (1906-1918) …
    »Offen gesagt, du wirst lästig.«
    Kasdan drehte sich um: Ricardo Mendez im grünen Kittel, eine Plakette mit der Aufschrift » GMI « um den Hals, war gerade erschienen. In diesem Aufzug wirkte er so, als wäre er aus einer spanischen Operette direkt in eine Folge von Emergency Room versetzt worden. Aber mit seinem dunklen Teint bewahrte er etwas Sonniges, den Charme der Karibik.
    Kasdan zwinkerte ihm zu und zeigte auf die Statuen:
    »Glaubst du, dass eines Tages deine Büste auch hier stehen wird?«
    »Du gehst mir echt auf den Wecker. Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich anrufe.«
    Der Armenier schwenkte eine Flasche und eine Plastiktüte.
    »Du brauchst eine kleine Pause: Das lese ich in deinen Augen. Ich habe das Abendessen mitgebracht!«
    »Keine Zeit. Hab alle Hände voll zu tun.«
    Der ehemalige Polizist deutete auf den in Dunkelheit gehüllten Garten im Innenhof des Gebäudes, hinter den Fenstern.
    »Ein Picknick im Freien, Ricardo. Wir essen, stoßen an, und schon bin ich wieder weg.«
    »Du bist eine richtige Nervensäge.« Mendez zog seine Handschuhe aus und stopfte sie in die Tasche seines Kittels. »Fünf Minuten und keine Sekunde mehr!«
    Seit den neunziger Jahren war der Innenhof des Leichenschauhauses auf Betreiben von Frau Professor Dominique Lecomte, der Direktorin des Gerichtsmedizinischen Instituts, in einen Blumengarten verwandelt worden. Ein Ort der Andacht, verziert mit Buchsbäumen, Maiglöckchen, Osterglocken und Fliederbüschen. Linker Hand bildete eine Weide ein Gegengewicht zu dem ausgetrockneten Brunnen in der Mitte, der mit seinem hellen, runden Becken wohltuend wirkte. In den Backsteingewölben der rechten Fassade befanden sich sogar Fresken: halb verblasste, sanftmütige Frauen in schmachtenden Posen.
    Die beiden sechzigjährigen Männer ließen sich auf einer Bank nieder, die so aussah, als wäre sie in einem öffentlichen Garten gestohlen worden. Kasdan zog in Alufolie eingeschlagene kleine Päckchen heraus. Vorsichtig öffnete er eines davon und murmelte:
    » Pahlavas – mit Honig und Nüssen gefüllte dünne Pfannkuchen.«
    »Hast du die unter den Achseln gerollt?«, gluckste Mendez.
    »Probier, bevor du meckerst!«, sagte Kasdan und hielt ihm eine Papierserviette hin.
    Der Gerichtsmediziner griff nach einem der Pfannkuchen, die in dreieckige Stücke geschnitten waren, und biss herzhaft hinein. Kasdan folgte seinem Beispiel. Schweigend genossen die beiden Männer ihre Mahlzeit. Aus der Ferne hörte man den dumpfen Verkehrslärm von der Schnellstraße, die hinter dem Leichenschauhaus entlangführte, und hin und wieder das Pfeifen der Hochbahn.
    »Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte Kasdan, um von seinem eigentlichen Anliegen abzulenken. »In der Nationalversammlung tut sich etwas in unserem Sinne. Sie beraten über einen Gesetzesentwurf, der …«
    »Ich warne dich«, unterbrach ihn Mendez mit vollem Mund, »wenn du mir vom Völkermord an den Armeniern erzählst, spring ich gleich über die Mauer und werfe mich auf die Schnellstraße.«
    »Du hast recht. Ich muss aufpassen. Ich komme ins Schwafeln.«
    »Du warst schon immer ein Schwätzer.«
    Kasdan lachte und kramte wieder in seiner Tasche. Er zog zwei Plastikbecher heraus und füllte sie mit einer zähen weißlichen Flüssigkeit:
    »Mazoun« , erklärte er, »hergestellt auf Joghurtbasis. Wusstest du, dass die Armenier den Joghurt erfunden haben?«
    Sie stießen an. Mendez schnappte sich noch einen Pfannkuchen:
    »Sind gut, deine Leckereien. Hast du sie selbst gemacht?«
    »Nein, eine Bekannte, eine Witwe aus Alfortville.«
    »Eine Affäre, wie?«
    »Eine Puppe.«
    Die Hochbahn
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