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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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kreischte über ihren Köpfen.
    »Die Witwen …«, wiederholte der Kubaner nachdenklich, »ich sollte auch mal dran denken. In meinem Metier mangelt es daran nicht.«
    Kasdan füllte ihre Becher ein weiteres Mal und verschränkte die Arme:
    »Ich glaube, ich werde verreisen.«
    »Wohin?«
    »In meine Heimat. Diesmal werde ich eine Rundreise machen.«
    »Eine Rundreise?«
    »Mein alter Freund, wenn du mir öfter zugehört hättest, wüsstest du, dass Armenien in empörender Weise zerstückelt und zurechtgestutzt wurde. Von den 350 000 Quadratkilometern des historischen Armeniens ist nur noch ein kleiner Staat übrig, der gerade einmal ein Zehntel dieser Fläche umfasst.«
    »Was ist mit dem Rest passiert?«
    »Den hat sich hauptsächlich die Türkei einverleibt. Ich werde meinen Namen ändern und die Grenze nach Anatolien überschreiten.«
    »Wozu deinen Namen ändern?«
    »Weil du schikaniert wirst, wenn du in die Türkei kommst und dein Name auf ›an‹ endet. Und wenn du dann noch den Berg Ararat besteigen willst, drängen sie dir eine militärische Eskorte auf, und du kannst nie sicher sein, ob du zurückkommst.«
    »Was willst du da unten machen?«
    »Die ältesten Kirchen der Welt besichtigen! Als die Christen noch in römischen Zirkussen zerfleischt wurden, bauten wir Armenier bereits unsere Kirchen. Ich möchte der Route dieser Stätten folgen, die ab dem fünften Jahrhundert erbaut wurden. Martyria – Mausoleen, in denen die sterblichen Überreste von Märtyrern liegen, in Felswände geschlagene Kapellen, Stelen … Anschließend werde ich mir die Basiliken des siebten Jahrhunderts des Goldenen Zeitalters, ansehen. Ich habe meine Route bereits geplant.«
    Mendez nahm noch einen Pfannkuchen:
    »Wirklich gut, deine Schweinereien …«
    Kasdan lächelte. Er wartete darauf, dass die Speisen ihre Wirkung taten. Der Honig, die Nüsse, der Zucker. Sobald diese Nährstoffe ins Blut des Kubaners gelangten, würden sich all seine Widerstände auflösen. Der Gerichtsmediziner kaute noch immer, ohne zu ahnen, dass der Pfannkuchen seinerseits an ihm kaute.
    »Schön«, sagte der Armenier schließlich, »was erzählt der Leichnam?«
    »Herzanfall.«
    »Du hast mir doch versichert, dass es ein Mord wäre!«
    »Wart’s ab. Ein Herzanfall, ausgelöst durch einen starken Schmerz.«
    Kasdan dachte an den Schrei, der in der Orgel eingesperrt war.
    »Um genau zu sein, ein Schmerz in den Trommelfellen. Das Blut kam aus den Ohren.«
    »Hat man ihm die Trommelfelle durchstochen?«
    »Die Trommelfelle und den Rest des Gehörorgans, ja. Eine HNO -Spezialistin ist gekommen, um all dies zu überprüfen. Man sieht auf den ersten Blick, dass der Mörder mit großer Gewalt einen spitzen Gegenstand in jedes Ohr getrieben hat. Wenn ich sage ›mit großer Gewalt‹, dann meine ich das so. Wenn es plausibel wäre, würde ich von einer Stricknadel oder einem Hammer sprechen.«
    »Kannst du dich etwas genauer ausdrücken?«
    »Wir haben das Organ durch einen Ohrenspiegel betrachtet. Die Spitze hat das Trommelfell durchbohrt, die Gehörknöchelchen zerstört und ist in die Schnecke eingedrungen. Um so tief vorzustoßen, muss man jemanden wirklich hassen. Dein Chilene hatte keine Chance. Sein Herz ist plötzlich stehen geblieben.«
    »Ist das so schmerzhaft?«
    »Hast du schon mal eine Ohrenentzündung gehabt? Der Gehörapparat ist gespickt mit Nervenbahnen.«
    Während seiner vierzigjährigen Laufbahn als Polizist war Kasdan noch nie eine solche Geschichte untergekommen.
    »Kann man tatsächlich vor Schmerzen sterben? Ist das keine Legende?«
    »Es wäre zu kompliziert, dir alles im Detail zu erläutern, aber der Mensch besitzt zwei Nervensysteme, das sympathische und das parasympathische. All unsere Vitalfunktionen basieren auf dem Gleichgewicht zwischen diesen beiden Systemen: Herzschlag, Blutdruck, Atmung. Starker Stress kann dieses Gleichgewicht stören und gravierende Folgen für diese Mechanismen haben. Das geschieht beispielsweise, wenn ein Mensch beim Anblick von Blut in Ohnmacht fällt. Der emotionale Schock erzeugt ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Systemen und bewirkt eine Erweiterung der Arterien. Man wird sofort ohnmächtig.«
    »Aber hier war es keine einfache Bewusstlosigkeit.«
    »Nein, der Stress war wirklich stark. Das Gleichgewicht wurde augenblicklich zerstört. Und das Herz hat versagt. Der Mörder wollte, dass das Opfer vor Schmerzen stirbt. Das war das Ziel der Übung. Was hatte Götz getan, dass ihn jemand
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