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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nach Spuren von entführten Kindern suchen. Man würde Überreste finden, die ihren Aufenthalt in der Kolonie belegten – in Formalin konservierte Präparate eines schauerlichen Museums.
    Was den Vorwurf »sektiererische Auswüchse« betraf, so ließe sich dieser leicht gegen die Kolonie erhärten. Nachdem ihre Anführer entlarvt worden waren, würde die Kolonie unter staatliche Aufsicht gestellt und ein Auflösungsverfahren eingeleitet werden. Bevor die Höhle des Albtraums endgültig geschlossen würde.
    Was die jüngsten Morde anlangte, so könnte man Verbindungen herstellen zwischen den Schuhabdrücken, den Holzsplittern, die an den Tatorten gefunden wurden, und den Sitten und Gebräuchen der Sekte: die Knaben, die altmodisches Schuhwerk trugen, ihre Angewohnheit, mit ihren Stöcken aus Akazienholz »das Terrain zu sondieren«. Zweifellos würden sich Psychologen damit befassen. Vielleicht würde man unter den Jungen sogar die Mörder von Wilhelm Götz, Naseerudin Sarakramahata, Alain Manoury und Régis Mazoyer finden …
    Es blieb die entscheidende Frage. Was genau hatten Hartmann und seine Männer geplant? Ein Attentat? Bruno Hartmann hatte, über den Rand der Schlucht gebeugt, von einem Anschlag gesprochen, der »allein mit der Kraft der Stimme« verübt werden sollte, die eine »Spur der Reinheit in eurer erbärmlichen Welt« sei … Ja. Der Deutsche hatte ein Blutbad im Zeichen des Schreis geplant.
    Kasdan musste an die Aun-Sekte und ihren Anschlag mit dem Gas Sarin auf die Tokioer U-Bahn denken. Er stellte sich einen todbringenden Schrei vor, der in den Gängen der Pariser Metro widerhallte. Das tödliche Echo würde von Tausenden von Keramikkacheln zurückgeworfen und die Trommelfelle der Opfer platzen lassen.
    Die Knaben sangen noch immer.
    Das war der Moment – der berühmte Moment –, in dem sich die Stimme des Solisten über den Gesang des Chors aufschwingt und die sensibelste Saite im Zuhörer zum Klingen bringt. Wie beim ersten Mal spürte Kasdan, wie die Tränen in ihm aufstiegen. Diese Knabenstimmen hoben die Seele empor wie zwei zarte Finger den Rücken eines Kätzchens – ganz leicht, ganz sanft …
    Kasdan dachte nicht mehr.
    Die Gewalt hatte sein Denken zum Stillstand gebracht. Nur sein Körper hallte von dieser Polyphonie wider – erstrahlte regelrecht darin – wie das Gewölbe einer Klosterkirche während der Andacht. Er betrachtete die Gesichter der Sänger, die, durch ihre Stimmen zusammengeschweißt, nichts mehr fürchteten. Sie alle trugen die Jacke und die Hose aus schwarzem Leinen. Und ihre heiteren, entspannten Gesichter schienen von einem himmlischen Widerhall erfüllt zu sein. Ein Art Echo des himmlischen Friedens …
    Die beiden Partner, die einzigen Zuhörer dieses unwirklichen Konzerts, waren fasziniert, entrückt, benommen. Sie sprachen nicht, atmeten kaum.
    Doch jenseits des Gesangs drängte sich ihnen etwas anderes auf …
    Unwillkürlich. Ohne einander anzusehen.
    Die Schlüsselfrage.
    Nur eine dieser Engelsstimmen besaß die Macht.
    Unter den Kindern beherrschte nur eines den tödlichen Schrei.
    Welches?
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