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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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der Techniker seine Vermutung, »zwischen den Blutspritzern, hinter den Orgelpfeifen.«
    »Der Mörder?«
    »Wohl eher ein Zeuge. Schuhgröße 36. Entweder ist dein Mörder ein Zwerg, oder es war einer der Chorknaben, was ich für wahrscheinlicher halte. Und er hat alles gesehen.«
    Kinderlärm im Hof. Bislang hatte Kasdan gar nicht darauf geachtet. Er stellte sich folgende Szene vor: Ein kleiner Junge geht hinauf, um mit Götz zu sprechen. Er platzt in die Auseinandersetzung zwischen dem Organisten und seinem Mörder hinein. Versteckt sich hinter den Orgelpfeifen und schleicht sich dann, im Schockzustand, still und heimlich wieder die Treppe hinunter.
    Kasdan griff nach seinem Handy und rief Hohvannès, den Küster, an.
    »Kasdan. Sind alle Kinder noch da?«
    »Einige brechen gerade auf. Ihre Eltern sind eingetroffen.«
    »Programmänderung. Kein Kind verlässt das Gelände, bevor ich es befragt habe. Keines, verstanden?«
    Er legte auf und blickte Puyferrat fest in die Augen:
    »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
    »Nein.«
    »Danke. Kein Wort zu Vernoux, dem Typen von der Kripo. Ich meine: nicht gleich!«
    »Ich werde meinen Bericht schreiben.«
    »Sicher. Vernoux wird also erst von dem Abdruck erfahren, wenn du ihm den Bericht gibst. Das gibt mir zwei oder drei Stunden Vorsprung. Kannst du das für mich tun?«
    »Er wird meinen Bericht heute Abend vor Mitternacht bekommen.«

KAPITEL 3
    »Wie heißt du?«
    »Benjamin, Benjamin Zarmanian.«
    »Wie alt bist du?«
    »Zwölf.«
    »Wo wohnst du?«
    »Rue du Commerce 84, im 15. Arrondissement.«
    Kasdan notierte sich die Angaben. Puyferrat hatte ihm weitere Einzelheiten mitgeteilt. Seines Erachtens passte das Muster des Abdrucks zu einem Basketballschuh der Marke Converse. »Ich trage die gleichen«, hatte der Techniker hinzugefügt.
    Kasdan hatte Hohvannès aufgefordert, den Jungen zu finden, der diese Schuhe trug. Der Küster hatte gleich sieben Kinder aufgetrieben, die alle zweifarbige Basketballschuhe anhatten. Offensichtlich war das der Schuh des Winters 2006.
    »In welche Klasse gehst du?«
    »In die fünfte.«
    »Welches Gymnasium?«
    »Victor-Duruy.«
    »Und du singst im Chor?«
    Kurzes Nicken. Es war der dritte Junge, den er befragte, und er erhielt nur einsilbige Antworten, zwischen denen es lange Pausen gab. Kasdan erwartete keine spontane Zeugenaussage. Er hielt vielmehr Ausschau nach Anzeichen von Nervosität oder eines seelischen Schocks bei dem Zeugen des Verbrechens. Bislang vergeblich.
    »Was für eine Stimmlage hast du?«
    »Sopran.«
    Kasdan notierte sich das. Zwar hatte es nichts mit dem Mord zu tun, aber in diesem Stadium musste man jedes Detail festhalten.
    »Was probt ihr gerade?«
    »Etwas für Weihnachten.«
    »Was?«
    »Ein Ave Maria. «
    »Ist das ein armenisches Lied?«
    »Nein, ich glaube, es ist von Schubert.«
    Widerstrebend hatte Sarkis diesen Verstoß gegen die Orthodoxie genehmigen müssen. Alles ging verloren.
    »Spielst du außerdem noch ein Instrument?«
    »Klavier.«
    »Macht es dir Spaß?«
    »Nicht besonders.«
    »Was macht dir dann Spaß?«
    Er zuckte wieder mit den Schultern. Sie befanden sich in der Küche, unterhalb der Verwaltung der Gemeinde. Die anderen Kinder warteten im Nebenraum, der Bibliothek. Der Armenier wollte den zeitlichen Ablauf der Ereignisse klären:
    »Wohin bist du nach dem Religionsunterricht gegangen?«
    »In den Hof. Ich habe gespielt.«
    »Was?«
    »Fußball, mit den anderen.«
    »Bist du nicht in die Kirche zurückgegangen?«
    »Nein.«
    »Hast du nicht Herrn Götz aufgesucht?«
    »Nein.«
    »Sicher?«
    »Ich bin kein Schleimer.«
    Der Junge hatte das mit einer rauen, für sein Alter seltsam ernsten Stimme gesagt. Er trug ein weißes Hemd, einen Jacquard-Pullover und eine Kordhose. Eine große Brille rundete den Typ »Muttersöhnchen« ab. Allerdings spürte man bei ihm eine stumme Aufsässigkeit, den Willen, dieses Image zu zerstören. Er zappelte unentwegt in seinem Pullover, als wäre er eine Haut, die juckte.
    »Was für eine Schuhgröße hast du?«
    »Weiß nicht. 36, glaube ich.«
    Sollte er sämtliche Paare Converse einsammeln lassen, markieren, nummerieren und zur Analyse ins Labor geben? Aber auch das würde keine verlässlichen Ergebnisse bringen, denn womöglich hatte der erschrockene Junge seine Schuhe abgespült. Und vor allem hatte Kasdan nicht die Befugnis, eine solche Untersuchung anzuordnen.
    »Okay«, sagte er, »du kannst gehen.«
    Der Junge verschwand. Kasdan warf einen Blick auf
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