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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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angeseilt und hielt eine Art Angelrute in den Händen. Erneuter Haken nach rechts, dann wieder nach rechts, damit seine Richtungsänderungen unvorhersehbar blieben. Wieder ein Blick zurück. Zwei neue Erkenntnisse. Die Angelrute war eine Stange, an der eine Art Lasso hing – ähnlich dem Werkzeug, mit dem mongolische Reiter ihre Pferde einfangen. Der Jäger war Rochas junior.
    Kasdan war am Ende seiner Kräfte. Es war nicht das brennende Gefühl in den Lungen. Auch nicht sein Rachen, der wie eine ansaugende Dampfpumpe nach Luft schnappte. Es war eine gewaltige Erschöpfung, eine bleierne Platte, die seinen ganzen Körper niederdrückte. Seine Toleranzschwelle war überschritten. Der Sechzigjährige hatte seine Energie verausgabt.
    Kasdan, der spürte, dass das Ende nahe war, zog die Schultern zusammen, wie um dem Jäger seine Aufgabe zu erleichtern. Das Lasso umschlang ihn. Der Wagen bremste ab. Die Schlinge spannte sich um seinen Bauch und presste seine Arme an seine Seiten. Einer Eingebung folgend, ließ sich Kasdan unvermittelt fallen. Schließlich sind hundertzehn Kilogramm keine Kleinigkeit. Dieser Sturz überrumpelte den Jäger. Das Lasso spannte sich abermals. Die Stange versteifte sich. Rochas junior wurde von der Bewegung mitgerissen. Kasdan hoffte, dass er loslassen würde. Doch im selben Augenblick begriff er, dass der Jäger selbst an der Stange festgeschnallt war. Sie waren beide untrennbar miteinander verbunden und wurden jetzt vom Schwung des Autos mitgerissen. Kasdan wurde mehrere Meter über den Boden geschleift, bis der Geländewagen unvermittelt stehen blieb.
    Er hörte eine atemlose Stimme:
    »Macht mich los, verdammt!«
    Er blickte auf. Ein schräger Blick von unten. Ein Mann sprang aus dem Fahrzeug, lief um den Wagen herum. Stieg, ein Messer in der Hand, auf das Trittbrett, um Rochas zu befreien. In diesem Moment, erst in diesem Moment wurde Kasdan klar, dass er noch eine Karte in petto hatte.
    Rochas streifte den Gurt ab und stürzte sich, noch immer die Stange in der Hand haltend und das Gesicht entstellt durch Wut und Kurzatmigkeit, auf Kasdan. Er taumelte wie ein Boxer, der einen Leberhaken kassiert hate. Als er sich in Reichweite von Kasadans Absätzen befand, streckte sich dieser jählings. Seine Füße trafen Rochas junior im Schritt, sodass dem Mann die Luft wegblieb. Kasdan richtete sich auf den Knien auf. Versuchte nicht, sich vom Lasso zu befreien. Er hätte die Sekunde, die ihm blieb, dafür gebraucht. Er streckte seine Unterarme aus, umfasste die Aufschläge der Daunenjacke Rochas’. Zog den Jäger zu sich, indem er den Kopf nach hinten warf, um ihn brutal wieder nach vorn zu stoßen und so Rochas’ Nase zu zertrümmern. Der Mann bäumte sich schreiend und stark blutend auf, aber Kasdan ließ die Daunenjacke nicht los und griff mit der anderen Hand unter den offenen Anorak. Am Gürtel steckte eine Pistole in einem Holster mit Klettverschluss. Er riss den Klettverschluss auf. Packte die Waffe. Wettete darauf, dass sie geladen und entsichert war. Drückte auf den Abzug. Der Schuss schleuderte den Feind zwei Meter nach hinten.
    Das Ganze hatte keine drei Sekunden gedauert. Die beiden anderen Angreifer hatten nichts davon mitbekommen, da ihnen der Körper von Rochas die Sicht versperrte. Jetzt war sein Gesichtsfeld frei. Er schoss und schoss noch einmal. Der Beifahrer, der ein Messer in der Hand hielt, wurde von einer Kugel gestreift und wirbelte herum wie ein Fisch, der an einem Angelhaken aus dem Wasser gezogen wird. Der Fahrer fuhr an, als die Scheiben zersplitterten.
    Kasdan, dessen Oberkörper noch immer gefesselt war, ging in Schussstellung, zielte auf das Auto, das in einem Wirbel von Gräsern und Staub losfuhr, und drückte auf den Abzug. Reflexartig drehte er sich um, mit beiden Fäusten seine Waffe umklammernd. Er feuerte drei Kugeln in Richtung von Rochas junior, der sich wieder aufgerappelt hatte. Der Mann wurde abermals mehrere Meter rückwärts geschleudert – in seinem Oberkörper klaffte ein riesiges Loch. Die Ebene war noch immer genauso weitläufig und kahl wie zuvor, doch Kasdan fühlte sich jetzt wie ein Kraftpaket, ein brodelnder Krater, der jeden, der ihm zu nahe kam, seine Lava entgegenschleudern würde.
    Der Schlagbolzen prallte auf die leere Kammer. Kasdan warf die Automatik weg. Breitete die Arme aus. Befreite sich von dem Lasso. Dies dauerte etwa dreißig Sekunden. In dieser Zeit war der verletzte Fahrzeuginsasse wieder aufgestanden. Kasdan sah wie auf
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