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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Jungen.«
    »Was bringt uns das?«
    »Ihr bleibt etwas länger am Leben. Sonst hab ich euch nichts anzubieten.«
    Kasdan atmete tief die eisige Luft ein. Wie ein Stück Wild in dieser Steppe zu sterben, wäre kein so unehrenhafter Tod. Besser als in einem Pariser Krankenhaus an Krebs zu krepieren. Oder an einem geplatzten Aneurysma im Schlaf.
    »Wo ist Volokine?«
    »In der Heide. Mit etwas Glück trefft ihr euch, dann könnt ihr eure Kräfte bündeln.«
    Kasdan lächelte.
    Ja, dieses Ende wäre nicht so schlecht.
    An der Seite Volokines sterben, nachdem sie wie die Spartaner gekämpft hatten.

KAPITEL 80
    Volokine wusste nicht, wie er davongekommen war.
    Wieso er nicht ausgeweidet worden war.
    Wieso er jetzt in einer Uniform der Kolonie – Matrosenjacke und Hose aus schwarzem Leinen, deutsche Schuhe – durch die Steppe lief.
    Er lief, nachdem er aus einem Geländewagen geworfen worden war, wie man einen Köder vor der Jagd wirft.
    Er lief, ohne sich Fragen zu stellen.
    Er lief, während er die Landschaft betrachtete und seine Überlebenschancen abschätzte.
    Keine bestellten Felder. Nur eine endlose Ebene. Eine von Kratern und Sümpfen durchsetzte Mondlandschaft. Grau und grün, grün und grau, wo hin und wieder eine Tanne einsam aufragte – selbst ihre Nadeln hatten dem böigen Wind nicht widerstanden. Weit weg, sehr weit weg war der Horizont so klar, so hart. Himmel und Erde wirkten wie zwei Feuersteine, die aneinanderrieben und aus denen jederzeit Funken schlagen konnten.
    Er lief noch immer. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Die Geier kreisten über seinem Kopf. Das gefrorene Gras knirschte unter seinen Schritten. Er hatte den Eindruck, über die dünne Eisdecke eines Sees zu laufen, die so knusprig war wie die Kruste auf einer Karamellcreme. Eine Decke, die von einer Sekunde zur nächsten brechen konnte, sodass ihn die schwarzen Tiefen verschlingen würden. Aber im Moment hielt sie. Und er selbst hielt ebenfalls durch. Trotz seiner Wunde am Bein. Obwohl ihm der üble Geruch des Narkosemittels noch in der Nase hing. Obwohl er erschöpft war und an Krämpfen litt.
    Er lief noch immer. Rannte von einem Fels zum nächsten. Stürmte die kleinen Böschungen hinunter und erklomm sie auf der anderen Seite. Stolperte über Löcher. Er klammerte sich an seinen eigenen Rhythmus. An seine eigenen Empfindungen. Regelmäßiger Atem. Regelmäßige Schritte. Selbst an den Schmerz in seinem Schenkel hatte er sich gewöhnt. Er war zu etwas geworden, das ihm eine Art Geborgenheit vermittelte.
    Er begann wieder Hoffnung zu schöpfen, als er unterschwellig etwas wahrnahm und daraufhin querfeldein lief. Er blieb hinter einer Felsplatte stehen. Warf einen Blick hinter sich.
    Da waren sie.
    Fünfhundert Meter zu seiner Linken. Sie marschierten Seite an Seite und deckten eine Linie von hundert Metern Breite ab. Weißer Kragen. Schwarze Jacke. Schwarze Kappe. Volokine erkannte ihre bleichen, verschlossenen, wunderschönen Gesichter. Die Ältesten waren keine zwölf Jahre alt. Alle hielten einen Stock in Händen, mit dem sie auf das Gras vor sich schlugen. Einen Stock aus dem Holz der Seyal-Akazie. Das Holz der Dornenkrone Christi. Die einzige erlaubte Weise, »die Welt zu berühren« …
    Wenn man sie so über den Boden stapfen und auf das Gras einschlagen sah, dachte man unwillkürlich an eine marschierende Armee. Eine erbarmungslose Armee, die den Feind witterte, aufstöberte und hetzte. Sie glichen außerdem kleinen Wünschelrutengängern, die mit ihren Ruten nach Wasser suchten. Es sind Kinder. Sie besitzen die Reinheit der vollkommensten Diamanten. Kein Schatten, kein Einschluss, kein Makel. Aber ihre Reinheit ist die des Bösen.
    Mit brennendem und schweißgebadetem Körper warf Volo einen Blick vor sich. Heide, so weit das Auge reichte. Wenn er weiterlief, würde er irgendwann auf ein Dorf stoßen. Oder eine asphaltierte Straße. Aber er hatte keinerlei Orientierung. Während der Fahrt waren seine Augen verbunden gewesen. Außerdem war er mit den Resten des Narkosemittels in seinen Adern, mit der Panik, die ihn auf dem OP -Tisch befallen hatte, dem sprachlosen Entsetzen während der Fahrt im Geländewagen nicht mehr bei klarem Verstand. Er war nur noch ein Tier auf der Flucht. Er musste rennen, rennen ohne Unterlass. Wie ein Hirsch bei einer Hetzjagd.
    Volo lief mit kleinen Schritten weiter. Er spürte nicht mehr die harten Unebenheiten unter seinen Füßen. Noch den stechenden Schmerz in seinem Bein. Noch den Ansturm des
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