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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einem roten Schirm seine einzige Chance. Ein großer Stein, der zwischen ihm und dem anderen im Gras lag. Er machte einen Satz, packte den Stein und hob ihn gegen den Mann. Der Schütze richtete seine Waffe auf ihn. Er war geliefert. Aber der Gegner zog in einem unverständlichen Reflex den Kopf ein, statt auf den Abzug zu drücken. Eine schlechte Wahl. Der Stein ließ seinen Schädel zerplatzen wie ein rohes Ei.
    Kasdan fiel nach hinten und berührte den Boden noch vor seinem Opfer, das taumelte und mit eingeschlagenem Schädel zusammenbrach.
    Stille.
    Jähe Windstöße. Stechender Schmerz in den Schläfen.
    Nicht nachdenken. Nicht analysieren. Dem Tier in ihm den Freiraum geben. Auf wackligen Beinen richtete er sich auf. Erster Reflex. Der Leiche die Waffe abnehmen. Zweiter Reflex. In den Taschen der Männer am Boden Magazine finden. Gleichzeitig die Automatik von Rochas junior an sich nehmen. In einem Winkel seines Bewusstseins identifizierte er die Modelle. M9 Beretta aus rostfreiem Stahl mit Dreipunkte-Visier. USP .45 Heckler & Koch, ausgerüstet mit einer taktischen Lampe und einem Laser-Visier. Er steckte die beiden Waffen in seinen Gürtel.
    Dritter Reflex. Laufen.
    Dem Fahrer war es gelungen, zu fliehen. Er würde mit Verstärkung zurückkommen. Und sie wären wegen der erlittenen Demütigung außer sich vor Wut. Wie im Rausch rannte Kasdan los – er sah den Horizont vor sich zittern.
    Wohin sollte er sich jetzt wenden? In seinem Innern tauchte der Mensch wieder auf und drängte das Tier in den Hintergrund. Er dachte nach. Gegen seinen Willen. Trotz allem. Und erkannte etwas Neues. Anders als er geglaubt hatte, erstreckte sich die Ebene nicht endlos weit. Im Gegenteil, sie endete jäh, einige Hundert Meter weiter. Wohl ein Steilhang, der zu einer Ebene abfiel, auf der die Felder der Kolonie lagen.
    Kasdan wurde noch etwas anderes klar. Womöglich hatte Rochas im Wagen nicht gelogen, und es gab tatsächlich einen natürlichen Zugang zur Kolonie. Eine Schlucht durch den brüchigen Kalkstein. Der Engpass der Thermopylen. Er musste die Felsterrasse mit dieser Spalte finden, durch die er auf dieses andere Plateau hinabsteigen und sich vielleicht kurzzeitig in Sicherheit bringen konnte.
    Als sich der Steilhang vor ihm abzeichnete, wandte er sich ohne ersichtlichen Grund nach rechts statt nach links. Er lief noch immer, als er spürte, dass sich die Resonanz des Bodens unter seinen Schritten veränderte. Das war kein Gras mehr, sondern nackter Fels. Ein graues Plateau, von Grasstreifen durchzogen, von Felsplatten übersät. Ein riesiges megalithisches Steindenkmal wie Stonehenge, dessen Steine durch ein Naturereignis umgestürzt worden waren.
    Die Spalte musste irgendwo hier sein.
    Er ging weiter, wurde langsamer, blieb mit den Knöcheln in den Vertiefungen hängen. Wie durch ein Wunder entdeckte er nach wenigen Metern die Spalte im Kalkgestein. Sie war breit. Zumindest an ihrem Ausgangspunkt. Am Fuß des Steilhangs verengte sie sich.
    Über natürliche Stufen, die er in einer der Felswände erspähte, stieg Kasdan in die Tiefe.
    Einige Minuten später erreichte er den Boden. Er hatte ein Gefälle von mindestens zwanzig Metern überwunden. Er blickte auf. Die beiden Felswände waren ungleichmäßig geformt – bald näherten sie sich an, bald wichen sie zurück, aber hier, am Boden, behielt der Schlauch eine konstante Breite von etwa drei Metern.
    Kasdan setzte sich in Bewegung, noch ohne zu wissen, ob er in eine Falle ging oder ob er die Schlucht gefunden hatte, durch die er sich der Kolonie unbemerkt nähern konnte. Oder war es nur ein Versteck, wo er den Einbruch der Dunkelheit abwarten konnte?
    Er ging weiter. Zumindest wollte er herausfinden, ob er mit seiner Intuition richtiggelegen hatte. Ob dieser Durchgang wirklich zu dem tiefer gelegenen Plateau führte, auf dem sich die Kolonie Asunción befand. Vielleicht ließ seine Aufmerksamkeit nach, weil er sich in Sicherheit wähnte. Vielleicht hatte die Erschöpfung ihren Tribut gefordert. Doch als es in seinem Rücken raschelte, war es zu spät.
    In der nächsten Sekunde wurden ihm die Füße weggeschlagen und er schlug de Länge nach am Boden auf.
    Alles ging so schnell, dass er nicht einmal den Kolben seiner automatischen Pistolen hatte berühren können.
    Ein Augenblick verging.
    Er spürte ein Knie zwischen seinen Schulterblättern und einen spitzen Gegenstand, der gegen seinen Nacken drückte.
    Ein gezischter Fluch.
    Der nachlassende Druck.
    Kasdan
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