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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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erfahren, wenn er sich in Geduld übte, die beiden im Visier seines Opernguckers behielt und später versuchte, Grimus und ihrem Freund nach draußen zu folgen, um sie an einem weniger frequentierten Ort zu stellen. Natürlich würde er sie dabei verlieren. Er hatte bereits mehr Glück gehabt, als einer wie er verlangen durfte.
    Weshalb er nun aus seinem Versteck hervortrat, ohne ein Zögern, sicheren Schrittes (soweit man das sagen konnte), in seinem rot-weiß-roten Plastikoverall, den Saugschlauch am Armstumpf, mit schweißnassem Haar, plüschernen Ohrenschützern, groß wie Gorillafäuste, wie alle Besenen mit einer erdfarbenen, breiigen Schutzcreme auf den Lippen, vorbei an den entsetzten Blicken der Kellner, vorbei an parfümierten Damen, die von ihren blaugekochten Forellen mit den künstlich eingelegten Gräten aufsahen, vorbei an den erschrockenen Blicken der Geschäftsleute, die in der angenehmen Atmosphäre des Adenauer ihre Beruhigungsgläser abgelegt hatten und also sehen konnten, wie ein Typ von der U-Bahn-Reinigung durch ihre Reihen marschierte, am Arm irgendein merkwürdiges Ding, bei dem es sich gut und gern um eine Bombe handeln konnte. Was anderes als ein Attentat mochte ein Besener im Adenauer auch sonst bedeuten? Im Kielwasser Chengs brach Panik aus, Weingläser fielen um, Bratenstücke fielen zurück in ihre Säfte, Zigaretten kippten aus den Mündern, manch einer griff zu seinen Beruhigungsgläsern, realistische Temperamente strebten den Ausgängen zu. Cheng bekam von alldem nichts mit, sein Blick war auf den einen Tisch gerichtet. Und über sein Gehör ist ja schon genug gesagt worden.
    Die Grimus sah kurz auf, zeigte keine Reaktion, widmete sich wieder ihrem Wein. Der Mann aber war aufgesprungen, sah Cheng entgeistert an, rang nach Worten, die sich stauten und schließlich überschwappten. Er packte Cheng an den Schultern, redete wie wild auf ihn ein. Schien sich zu rechtfertigen. Sah immer wieder zur Grimus, hilfesuchend. Die aber blieb bei ihrem Wein.
    »Hör auf zu schreien, Ran«, sagte Cheng, »ich kann dich ohnehin nicht verstehen.« Cheng zeigte auf sein rechtes Ohr und wischte mit der Hand ein Nein in die Luft.
    Field sah zu Boden, betreten, wirkte unglaubwürdig, richtete den Kopf wieder auf, lächelte wie über eine Geschichte, die man nun wirklich nicht mehr aufzuwärmen brauchte, faßte Cheng nochmals an der Schulter, nun, wie um seinen alten Freund wegen dem bißchen Taubheit und den anderen Kleinigkeiten zu beruhigen und auf einen Drink einzuladen. Dafür war es freilich zu spät. Ran sah über Chengs Schulter hinweg das zwangsläufige Unheil nahen, weshalb er von der Schulter wieder abließ, einen Schritt zur Seite machte, gestikulierte, den herbeigeeilten Kreuzrittern – die im Kielwasser Chengs Stellung bezogen hatten – etwas zurief, verzweifelt, schlichtweg aus dem einen Grund, da er selbst in ihrer Schußlinie stand, aufschrie, die Grimus am Handgelenk packte, sie vom Sessel riß und aus dem Gefahrenbereich schleifte. Was bei Cheng den Eindruck hinterließ, Charlotte Grimus sei blind, ein Eindruck, der ihn zum letzten Mal in seinem Leben erschaudern ließ. Die Gewehrsalven der Kreuzritter erlösten ihn auch davon.

Anmerkungen des Autors
zur Wiederauflage von Cheng
    Bevor Markus Cheng ein Mensch wurde, war er eine Comicfigur, allerdings eine leibhaftige. Was bedeutet, daß seine Unfälle, seine bizarren Schicksalsschläge, sein Scheitern in der Art einer Endlosschleife, daß all dies in einer zeichentrickartigen Drastik vonstatten geht. Wie im Comic gibt es dauernd gigantische Beulen. Nur daß diese Beulen im gleich darauf anschließenden Moment nicht verschwunden sind. Chengs Beulen bestehen auch noch im nächsten und übernächsten Bild. Die Ergebnisse seiner Mißgeschicke sind konkret und weltlich. Ein verlorener Arm bleibt ein verlorener Arm.
    Daß diese literarische Figur bei ihrem ersten Auftreten in einer Comicwelt lebt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß ich das Wien der neunziger Jahre exakt so empfunden habe: als ein böses Entenhausen. Eine gummiartig sich verbiegende Stadt, die den gescheiterten Figuren nicht einmal den Trost sich rasch auflösender Beulen läßt.
    Die Drastik des Dargestellten ist Prinzip einer quasi vorphilosophischen Zeit. Die Deutlichkeit und Parteilichkeit der Kommentare Ausdruck eines Desinteresses am Ausgleich, an der modernen Unart ständigen Relativierens.
    Der Cheng, der dann folgt ( Ein sturer Hund , 2003), ist einer, der
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