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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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    Ihre Beine waren zu dick.
    Jetzt, da die ständigen Auseinandersetzungen mit Barbara ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatten, war er geradezu wütend ob ihrer dicken Beine. Die man sich freilich nicht dick vorzustellen hat. Dick sind Beine, wenn sie nicht exakt den Vorgaben der Bekleidungsindustrie entsprechen, während kein Mensch wirklich dicke Beine als dick bezeichnet, liegen doch wirklich dicke Beine außerhalb einer geordneten Sprachregelung; wirklich dicken Beinen glaubt man nur noch mit Verbalinjurien begegnen zu können, weshalb höfliche Menschen angesichts von wirklich dicken Beinen in eine Sprachlosigkeit zurücksinken, welche nichts ändert an der peinlichen Berührung, die der Anblick dicker Beine in ihren inhaftierten Hirnen auslöst.
    Da nützte auch nichts, daß Barbara alles Erdenkliche unternahm, um ihre Beine, und nicht nur diese, dem anzunähern, was einen Menschen – entsprechend der allgemeinen Lesart – von einem Unglücksfall unterscheidet.
    Nie hätte Ran gewagt, sich offen über ihre Beine zu mokieren, aber sie spürte seinen Ekel, der ihr nur zu vertraut war, spürte sie ihn doch gegen sich selbst. Natürlich bezog dieser Ekel seine ungeheure Intensität auch aus ganz anderen Problemen, etwa Barbaras ungeliebter Pflicht, ihre streitsüchtige Mutter zu pflegen, die dank einer angeblich todbringenden Krankheit noch kräftiger und anmaßender geworden war, oder Rans diversen Allergien, die ihm jede Nahrungsaufnahme zur Tortur machten. Es blieb unklar, gegen was er eigentlich allergisch war, so daß die Bedrohung sich ungehemmt aufblähen konnte.
    »Findest du nicht auch, daß ich zu dicke Beine habe?« Und dabei sah sie ihn haßerfüllt an, weil sie ja die Antwort kannte und gleichzeitig wußte, daß er diese Antwort niemals wagen würde auszusprechen, was sie als jämmerliche Verlogenheit empfand, während ihr aber auch klar war, daß sie durchdrehen würde, wollte er die Möglichkeit einer solchen Antwort auch nur andeuten.
    »Ach Schatz, hör doch auf. Deine Beine sind völlig in Ordnung.«
    Und dabei vermied er es, ihre Beine anzusehen, die sie demonstrativ zur Schau stellte, wie ein zynischer Krüppel, der seinen entstellten Körper einem voyeuristischen Publikum entgegenstreckt, welches hinter angeblichem Gleichmut seine Abscheu verbirgt.
    »Du hättest sehen sollen, wie mir der Klaghofer gestern auf die Beine gesehen hat, mit Augen, als hätte er die Basedowsche Krankheit. Ich hab’ das Schwein richtig hören können, mit seinem blöden ts, ts: na, unsere hübsche Babsi, so ein schöner Arsch, und die Titten kriegen auch einen Preis, aber um Himmels willen, diese Oberschenkel, wie von einem russischen Gewichtheber.«
    Ran lachte gekünstelt, ängstlich bemüht, die Sache als Altherrenfrivolität abzutun. »Aber Schatz, der Klagi ist doch ein alter Trottel. Wie kann dich so einer kümmern.«
    »Interessant. Du gibst seiner Sichtweise also recht. Dich stört nur, daß er nicht verschämt wegschaut. Die alte Sau ist wenigstens ehrlich, während du dir denkst, Gott im Himmel, die Babsi hat ja Elefantiasis. Aber sagst natürlich kein Wort.«
    »Du bist verrückt, völlig verrückt. Was willst du mir da anhängen? Elefantiasis – du bist Biologin und weißt nicht einmal, wie eine Elefantiasis aussieht.«
    »Ich hab’ nicht gesagt, daß ich Elefantiasis habe, sondern daß du es denkst.«
    Natürlich war das nicht die Art Gespräch, die einen gemütlichen Abend einleitet.
     
    Um dem hier angesprochenen Professor Klaghofer, einem wahrlich harmlosen Spezialisten für Parasitismus, zu seinem Recht zu verhelfen, sei erwähnt, daß er zwar tatsächlich Barbara angestiert hatte, aber hätte er um den Verdacht gewußt, etwas an ihr bemängelt zu haben, er wäre geradezu erschüttert gewesen. Schließlich empfand er die junge Frau als überaus anziehend, und da der Zeitgeist in seiner ungewöhnlich immunen Seele nur selten wütete, war ihm das Problem dicker Beine nicht vertraut (weshalb viele ihn für einen Idioten oder ein Genie hielten, was er beides nicht war).
     
    Ran überlegte, ob er den Hörer abnehmen sollte. Für ihn war die Sache erledigt. Barbara und er konnten eben nicht miteinander. Da nützte es nichts, daß sie hin und wieder im Bett Spaß miteinander hatten (und nicht einmal das war sicher, denn Barbaras leidenschaftliches Getue schien ihm ziemlich dick aufgetragen, geradezu verzweifelt). Es gab wenig, worüber sie einer Meinung waren, und so gut wie nichts, worüber
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