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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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schließlich Kind, um sich mit den Ungerechtigkeiten, Verleumdungen und Schuldzuweisungen anzufreunden. Die Schuldzuweisung ist schließlich einer der zentralen Aspekte unserer Zivilisation, wobei die tatsächliche Schuld vollkommen bedeutungslos ist. Entscheidend ist die Bedeutung des Klägers; ist er bedeutender als der Beschuldigte, so geht es nur noch darum, Haltung zu bewahren oder jemanden zu finden, der sich durch noch größere Bedeutungslosigkeit schuldig gemacht hat.
     
    »Hör zu, H.P., ich versichere dir, daß ich nicht das geringste mit Edlingers Frau habe. Ich kenne sie ja kaum, die war doch nie am Institut. Und bei der alljährlichen Party mache ich meinen Knicks, und das war es dann auch schon. Überhaupt, wer verstreut einen solchen Unsinn?«
    H.P. strich sich nachdenklich über seinen mächtigen Schnauzer.
    Eine Schuhbürste, wie seine Frau abfällig behauptete, eine österreichische Schuhbürste, und tatsächlich war dieser Schnauzer eine Anpassung an das Erscheinungsbild des heimischen Naturmenschen; davon war H.P. überzeugt.
    »Na ja, Ranjunge, das ist natürlich etwas verwirrend. Ich muß dir wohl glauben. In deiner Lage wäre Lügen sowieso sinnlos. Die Hyänen haben das Aas gerochen, ob natürlich oder synthetisch, ist denen egal.
    Brusberg hat mir davon erzählt, dieser Deutsche, der Edlingers Bücher verlegt. Ein fürchterlicher Mensch, wenn du mich fragst – na ja, ich konnte die Deutschen nie leiden. Ist dir das schon aufgefallen, sie reden andauernd von ihren Autos; triffst du einen Deutschen, schon erzählt er dir irgendeine blöde Geschichte von seinem Auto. Auch die Deutschen, die Autos ablehnen, reden die ganze Zeit von ihrer Aversion gegen Autos, das sind überhaupt die Schlimmsten. Ein Autovolk ist das, ein schreckliches Autovolk, fanatische Autophobe oder fanatische Autophile.«
    »H.P., bitte!«
    »Verzeih, aber die regen mich nun einmal auf. Also, der Brusberg hat mir das zugeflüstert. Der hat mir tatsächlich ins Ohr gespuckt. Aber ich sag’ dir, der Brusberg hat sich das nicht ausgedacht. Und mach bloß nicht den Versuch, den Brusberg danach zu fragen, woher er das hat. Du bist jetzt superheiße Kuhscheiße, mein Junge. Eine verdammte Menge Leute wird alles tun, um dir aus dem Weg zu gehen; keiner will sich verbrennen, keiner will in die dampfende Kacke steigen.«
    »Und was ist mit dir? Du verbrennst dich nicht?«
    H.P. lachte. »Hast schon recht. Ich sollte aufpassen, auf welche Kochplatte ich meine Pfoten da lege. Aber im Ernst, Ranjunge, als Diplomat darf ich mir das erlauben. Solange ich nicht wirklich Position beziehe. Und vor so einer Dummheit bewahre mich der heilige Doyen.«
    In diesem Moment sah Ran Barbara. Sie trug ein schwarzes Seidentuch, das sie um Unterleib und Brust gewickelt hatte, und Ran kam nicht umhin, ihre Beine diesmal nicht als dick zu empfinden, was sie ja auch nie gewesen waren. Sie sah großartig aus, weshalb auch der Typ an ihrer Seite so gut dazu paßte. Ran kannte ihn nicht. Unsympathisch wie alle Kerle, die dreinschauen, als arbeiteten sie als Modepuppen für Herrn Calvin Klein.
    Ran dachte, wie wenig er selbst zu Barbara paßte, jetzt einmal abgesehen von der ständigen Streiterei. Ran war eher der langweilige Typ, nicht hübsch, nicht häßlich, keine Verunstaltungen, aber auch sonst nichts, an dem ein Blick hängenblieb. Brillenträger ohne Sex-Appeal (also eher wie ein Brillenträger aus den Sechzigern), sportlich in Maßen, eben einer von den vielen, die sich an Sonntagen auf Tennisplätzen Zerrungen zuziehen oder sich nach Jahren im Fitneßstudio darüber wundern, daß sie zwar kaum abgenommen haben, aber dafür zu immer leichteren Gewichten greifen müssen. Nicht, daß Ran sich bisher viele Gedanken darüber gemacht hatte. Denn er bildete sich tatsächlich ein (eine Einbildung, die allerdings genau in diesem Moment ihr Ende nahm), daß er genug Charme, Esprit, Witz und was weiß der Teufel für schwammige Eigenschaften besaß, um die Mittelmäßigkeit seiner äußeren Erscheinung wettzumachen.
    Nachdem Barbara ihren Schönling auf dem weißen Kies geparkt hatte, trat sie auf Ran zu. Sie sah umwerfend aus (schließlich hockte sie ja nicht zu Hause vor dem Fernseher oder dem Eiskasten, wo ein jeder Mensch, auch der sogenannte schöne Mensch, eingefallen, verhärmt, blaß und blöde wirkt, schlichtweg in seine tatsächliche Häßlichkeit zurückfällt) – ihre Augen groß, hart, blau und kriegerisch wie ein titanischer Traum, die Haut
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