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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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Dreck fiel an – kein Mensch kam auf die Idee, die Müllbehälter zu verwenden; schmale Schlitze in der Wand, durch die ein dünnes Briefkuvert paßte. Und natürlich gab es hier kein Rauchverbot, schon eher eine Rauchpflicht, und allein um die Kippenberge zu beseitigen, waren in jeder Station mehrere Männer pausenlos im Einsatz. Versteht sich, daß durch das kollektive Gepaffe die Luft nicht unbedingt besser wurde.
    In dem bißchen Freizeit, das zwischen Arbeit und Schlafkoje anfiel, saß Cheng im St . Johann , einer österreichischen Bar. Chinesen ohne ausländische Begleitung sah man hier nicht gern, Cheng aber war willkommen, immerhin ein geborener Wiener. Der Besitzer der Bar, ein Pongauer Original aus St. Johann, war froh über diesen Gast, ruhig, adrett gekleidet, immer am Rand der Bar stehend, der keine Schulden machte (was hier – wie überall auf der Welt – einem Wunder gleichkam) und der es verstand, jemandem sein Ohr zu leihen. Der Pongauer hörte sich gerne reden, benötigte aber einen Zuhörer, damit das Bild sozusagen stimmte, und weil ja nun Cheng gehörlos war, andererseits aber nicht blind, also den Pongauer lachen sah und mit ihm mitlachte, den Pongauer nicken sah und mit ihm mitnickte, den Pongauer die Stirn runzeln sah etc., deshalb war Cheng ein ausgezeichneter Zuhörer. Und daß der Pongauer dazu tendierte, die immer gleichen Geschichten zu erzählen, störte nun wirklich nicht.
    Eigentlich fühlte sich Cheng in dieser Stadt (die er kaum kannte) recht wohl. Was nichts daran änderte, daß niemals so etwas wie ein heimatliches Gefühl seine eingeschlossene Wiener Seele erfaßte.
     
    Er hinkte über den Bahnsteig der Deng-Xiaoping-Centralstation, dort wo ein gläserner Aufgang zum Kurt-Waldheim-Memorial führte, einem der schönsten Plätze in Kunming, auf dem jeden Nachmittag um Punkt drei Uhr eine Wiener Polizeikapelle Aufstellung nahm und – nachdem ein chinesischer Soldat in die Luft gefeuert hatte – den Radetzky-Marsch mit der immer gleichen Leidenschaft, stets volltrunken und mit Feuer im Herzen vortrug. Ein touristisches Muß.
    Cheng hatte einen Berg von Zigarettenkippen zusammengekehrt, dazu leergesaugte Ketchupdosen, Gesichtsfolien, tote Handys, Fingerkuppen (die U-Bahn hatte auch ihre Tücken), alle möglichen Wegwerfprodukte (deren Sinn tatsächlich in nichts anderem bestand, als sie wegzuwerfen), und natürlich angebissene Japaner (Salzkekse, in die man biß und sie ausspuckte – ein Ersatz für das verbotene Speichellassen im öffentlichen Raum). Im Müll lagen auch jede Menge Ohrenschützer, die irgendwelche Bengels von den Köpfen der Leute gerissen und in den Dreck geworfen hatten.
    Die Kunminger liebten ihre Ohrenschützer, aber was auf den Boden fiel, das galt als verloren.
    Cheng schloß die an seinem Armstumpf seitlich angebrachte Saugvorrichtung an eine Schlauchöffnung, die aus der Wand stand, stampfte mit seinem gesunden Bein kurz auf, woraufhin die Anlage ansprang und Cheng beginnen konnte, den Dreck aufzusaugen. Während er so dastand, inmitten der Leute, die auf einen Zug warteten, inmitten des Lärms aus Geschwätz, Selbstgesprächen, Werbeeinschaltungen und Strauß-Walzern, eines Lärms, der ihm nichts anhaben konnte, und er also mit größter Sorgfalt seinen Staubsauger bediente, da begann er zu sinnieren, dachte daran, daß es jetzt mehr als zehn Jahre zurücklag, daß mit dem Tod des unvergeßlichen Erich Grobfeld der Fall Ranulph Field gewissermaßen einen Abschluß gefunden hatte. Denn für Cheng war es im Grunde immer nur dieser eine Fall geblieben. Maria Baumann und Charlotte Grimus waren nie wiederaufgetaucht; man kann aber auch nicht sagen, daß hartnäckig nach ihnen gesucht wurde. Preisinger dankte dem Allmächtigen, daß alles vorbei war, die Leute in ihren Ehrengräbern lagen und Frieden gaben. Was nichts daran änderte, daß der Hofrat ein Jahr später den Bemühungen eines Lungenkarzinoms nachgab und ebenfalls auf das große Gräberfeld im Süden Wiens übersiedelte.
    Cheng resümierte, wer denn von damals überhaupt noch am Leben war. Nun, Straka war es nicht, der hatte seinen Magen nicht überlebt. Einen besseren Magen besaß Christa Hammerschmid, die Mörderin eines längst vergessenen Burgschauspielers. Mit großem Erfolg leitete sie in jener Strafvollzugsanstalt, in der sie einsaß, eine Entwicklungsabteilung für Lasertechnologie (natürlich gab es anfänglich Proteste, daß ausgerechnet Gefängnisinsassinnen sich mit Lasertechnik
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