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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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Seite, ließen die Luft aus ihren Brustkörben, steckten ihre Präzisionswaffen in golfsackartige Taschen, lockerten ihre Gürtel und eilten in einen Nebenraum, um sich die paar Minuten, bis der nächste Aufzug kam, eine Fußballübertragung aus Deutschland anzusehen. Die ganze Truppe stammte aus Bayern, überzeugte 1860er, echte Fanatiker, weshalb auch keiner von ihnen mitbekam, wie nun Cheng den jedes Geräusch schluckenden Gang passierte, durch eine automatische Glastür ging, auf der Adenauers Konterfei aufgemalt war, in die Halle trat und sogleich, bevor das gerötete Auge eines Kellners seiner habhaft werden konnte, hinter einer Palme in Deckung ging. Palmen gab es genug, gewaltige Dinger, die in einer Reihe standen, entlang einer zehn Meter hohen Stahlwand, von der die Flaggen der großen Konzerne im künstlichen Wind wehten. Eine Längsseite des Stockwerks wurde von einer einzigen Fensterwand eingenommen, die eine Aussicht auf den Place Of The Liberation Army freigab; welche Armee damit gemeint war, darüber gab es unterschiedliche Ansichten, immerhin war der zentrale stählerne Triumphbogen von den rührigen Thyssenern gestiftet und errichtet worden.
    Cheng bewegte sich entlang der aufgereihten Palmen, plazierte sich schließlich hinter einem Topf, groß wie sein Körper, von wo er beinahe den gesamten Raum überschauen konnte. Er entnahm seiner Tasche eine Art Operngucker, der zur Grundausstattung der Besenen gehörte, deren traditionelle Sehschwäche den Blick in die Ferne erschwerte. Das kleine Gerät besaß eine erstaunliche Qualität. Cheng sah den Gästen in die Suppen hinein, sein Blick strich über das Reptilleder der Herrenkrawatten und über Damenhüte aus vergoldetem Zeitungspapier, über die Motive der Servietten: Adenauer gibt seine Stimme für die Wiederbewaffnung ab, Adenauer spielt Schach, bläst Kerzen aus, lächelt mit de Gaulle. Cheng sah die gekrümmten Rücken der Kellner, die Insekten in den Blumenarrangements, rausgestreckte Zungen und lippenstiftverschmierte Zigarettenfilter, und er sah ein Glas Wein, das langsam zum Mund geführt wurde, gehalten von einer Hand, die in einem roten Lackhandschuh steckte, der zwischenzeitlich auf Unterarmhöhe zurückgeschoben worden war. Ein Handschuhfinger, leer und schlaff, zeigte auf das Gedeck. Das Gesicht der hochgewachsenen Frau war verdeckt von einer Sonnenbrille im Stil der guten alten siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; hinter solchen Brillen war kein Gesicht mehr auszumachen. Aber darauf kam es ja auch nicht an, Cheng war sicher: Es war Charlotte Grimus, kaum verändert nach zehn Jahren. Was er von sich selbst nicht behaupten konnte. Übrigens auch nicht von dem Mann, der Charlotte Grimus gegenübersaß und dessen Anblick Cheng nun mit einer Wucht in den Schädel fuhr, als hätte er unvermutet sein Gehör wiedergefunden.
    Es war Ranulph Field, das heißt, er sah so aus, wie Ranulph Field wohl nach zehn Jahren ausgesehen hätte, wäre er nicht unter der Erde von Adelaide gelegen. Es waren Rans Bewegungen, es war Rans Art, die Haare hinter die Ohren zu streichen, mit Daumen und Mittelfinger die beiden Brillenbügel gegen die Schläfen zu drücken, die Zigarette mit dem Filter auf den Handrücken zu klopfen – aber das konnte man sich natürlich auch einbilden.
    Cheng überlegte, das der einzige, den er nie zu Gesicht bekommen hatte, dieser Jack Swanzy gewesen war, dessen Ähnlichkeit mit Ran er nur aus Erzählungen kannte. Was war aus dem Kerl überhaupt geworden? Sollte der da drüben Jack Swanzy sein, der nicht nur wie ein um zehn Jahre gealterter Ranulph Field aussah, sondern genau wie dieser ständig mit der linken Hand sein – infolge kurzer Hose – nacktes Knie rieb? Oder war Jack Swanzy vielmehr jenes tote Stück Fleisch gewesen, das Barbara Gregor und er selbst, später dann sogar die aus Australien angereisten Eltern als den toten Ranulph Field identifiziert hatten? Und war es also doch Ranulph Field, der dort drüben mit Charlotte Grimus saß?
    Cheng wollte es wissen. Nur noch das eine. Ob er all diese Verletzungen seines Körpers hatte in Kauf nehmen müssen, bloß weil er sich einem toten Klienten verpflichtet gefühlt hatte, welcher gar nicht tot gewesen war? War von Anfang an geplant gewesen, auf Grund der Ähnlichkeit von Jack Swanzy und Ranulph Field ein Mißverständnis vorzutäuschen, um solcherart wiederum den Tod Ranulph Fields vorzutäuschen, wozu auch immer?
    Er wollte es wissen. Und glaubte nicht, etwas zu
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