Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
beschäftigten. Doch die erstaunlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der medizinischen Lasertechnik und in anderen – nicht näher benannten – Disziplinen, vor allem aber deren internationale Vermarktung überzeugten und begeisterten). Auch Doktor Hantschk erfreute sich noch bester Gesundheit, war in der Zwischenzeit pensioniert und hatte einen umstrittenen Ratgeber auf den Markt gebracht, der sich zwar als rein wissenschaftliche Arbeit tarnte, aber in Wirklichkeit den interessierten Laien genauso wie den um Fortbildung bemühten Professionisten in einer leicht verständlichen Sprache unterwies, wie ein Mord zu begehen sei, ohne daß gleich jeder dahergelaufene Polizeiarzt den Tatvorgang präzisieren konnte (Mord und Fälschung , Verlag Wissenschaft und Praxis). Weniger Glück hatte Staatsanwalt Martin Geissler, den ein verrückter Tod ereilte, auf den er sich jedoch in unzähligen Alpträumen und Ahnungen geistig vorbereitet hatte. (Von einem Gemälde beziehungsweise seinem üppigen Prunkrahmen erschlagen zu werden gehört erwiesenermaßen zu den allerhäufigsten Wahnvorstellungen europäischer Bildungsbürger, kommt andererseits so gut wie nie vor.) Die genaueren Umstände wurden nie restlos geklärt. Das Ende des Staatsanwalts war ja nicht bloß tragisch, sondern auch höchst peinlich, immerhin ereignete sich der tödliche Vorfall während eines nachmittäglichen Empfang des französischen Botschafters. Der Staatsanwalt hatte – angetan vom Anblick einer Botschaftssekretärin, der er gerade philosophas non curat (Einen erhabenen Geist bekümmert dies nicht) erklärte – unter einem Gemälde von Johann Baptist Reichsritter Lampi dem Älteren gestanden, als das Kunstwerk seine unsachgemäße Aufhängung verließ. Der Rahmen traf den (nicht wirklich überraschten) Staatsanwalt derart unglücklich (das spitze Stück eines stilisierten Pfingstrosenblattes hatte die Schädeldecke durchbrochen), daß er noch vor Ort verstarb. Ein fröhlicher diplomatischer Nachmittag war dahin. Der Botschafter zeigte sich selbstredend schockiert, und irgendein Minister sprach von einer Lücke. Aber das mit der Lücke war natürlich Unsinn und Geissler schneller vergessen als etwa der von ihm seinerzeit an die Wand gespielte Massenmörder Strahammer.
    Wer überraschenderweise noch immer unter den Lebenden weilte, war der Kater Batman, was wohl auf seine streßfreie Lebensweise und die Erhaltung dieses streßfreien Raums durch Irene Böhm zurückzuführen war. Lauscher hingegen hatte sich bereits ein Jahr nach Grobfeld zur Ruhe gelegt (nicht unweit vom Asperner Friedhof, wo Chaloupka lag) – er war dem Tod dort begegnet, wo es sich für ein vernunftbegabtes Wesen gehört: im Schlaf.
    Cheng hatte jahrelang nicht mehr an diese Geschichte, an die in diese Geschichte involvierten Personen gedacht. Selbst Lauschers prägnante Gestalt war mit der Zeit hinter einen Nebel gefallen, der unser Glück bedeutet, da ja alles hinter diesen Nebel fällt, nicht bloß Hunde mit großen Ohren, sondern auch weit weniger erfreuliche Anblicke, etwa jener der hingerichteten Herren Chaloupka und Thomson.
    Warum aber mußte er ausgerechnet jetzt an diese unglückselige Geschichte denken? Waren es die Fingerkuppen, die zwischen den Zigarettenkippen steckten? – Nein, sein Blick war bereits die längste Zeit auf eine Frau gerichtet, die einige Meter von ihm entfernt stand, zwischen anderen Passanten, zu weit weg, als daß er hätte sagen können, aus welchem Stoff ihr cremefarbenes Kleid bestand. Was er gut erkennen konnte, war die schlanke Damenzigarette, an der sie mit einer Konzentration sog, als könnte man sich dabei verkühlen oder Aktien verlieren. Wäre ihre Hand unbedeckt gewesen, vielleicht hätte er es übersehen. Aber dank des bis zur Achsel reichenden, signalroten Lackhandschuhs war es überdeutlich: Ihr fehlte der kleine Finger.
    Cheng war klug genug, sein ruhiges Leben nicht gefährden zu wollen. Warum er dennoch seinen Besen zur Seite stellte, seinen Staubsaugerarm von der Einzugleitung abklinkte und, als nun ein Zug kam, sich in denselben Waggon zwängte, in den auch die Frau stieg, das ist schwer zu sagen. Warum tun Menschen derartiges? Warum springen sie aus Flugzeugen? Warum gehen sie schwimmen, warum heiraten sie oder trinken Cola oder schließen Versicherungen ab? Warum arbeiten sie ständig gegen sich selbst?
    Er stand also in dem Gedränge und tat so, als würde er wie alle anderen hinauf zur Decke starren, wo auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher