Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
auf die Straße traten, befanden sich natürlich in Begleitung ihrer Hunde – Cheng fühlte sich gar nicht wohl bei diesem Anblick. Ihm fiel ein, er hatte Lauscher vergessen. Weil er sich nicht an den Namen der Straße oder des Lokals erinnern konnte, wies er den Taxifahrer an, zum Pflegeheim Lainz zu fahren, von wo er ihn dann weiterdirigieren würde. Der Taxifahrer, ein in jeder Hinsicht ausgeschlafener Ungar, aus dessen rasanten, spritzigen Erzählungen hervorging, daß er jede Gasse in Budapest kenne, in Debrecen so gut wie jedes Haus, verfuhr sich auf dem Küniglberg, auf dem Roten Berg und auf dem Girzenberg und gelangte wie durch ein Wunder (ohne je am Pflegeheim Lainz vorbeigekommen zu sein) zum Heurigenlokal »Nachtwächters Schatten«, Besitzer Egon Ernst Nachahmer.
    Natürlich war es um diese frühe Stunde geschlossen. Cheng ging um das Gebäude herum, in ständiger Erwartung, entweder von Egon Ernst oder seiner Winifred angefallen zu werden. Vielleicht würde er also doch noch im Spital landen. Über eine offene Seitentür gelangte er in den Hof, der wohl im Sommer als Gastgarten diente. Jetzt war der Boden mit einer durchscheinenden Schneeschicht bedeckt, darin die Abdrücke von Hundepfoten. Mit erzwungener Selbstverständlichkeit überquerte Cheng den Hof, vorbei an einem steinernen Elefanten (was alles mögliche bedeuten konnte), öffnete eine Tür (auf der ein Plakat klebte, das den Auftritt der Gruppe Nervöse Fische ankündigte) und gelangte über die Toilette in den Gästeraum. Lauscher lag noch immer vor dem Kamin, öffnete die Augen, richtete langsam seine Ohren auf, erhob sich ebenso langsam, streckte sich und gähnte einer verrückten Welt ins Antlitz. Kurz schnupperte er an Chengs Hosenbein (was er roch, roch nach Abenteuer, weshalb er sich abwandte; er hielt das Bedürfnis nach Abenteuern für einen Defekt). Cheng öffnete eine Tür. Lauscher trat ins Freie, unterließ das übliche aufwendige Getue bezüglich eines idealen Platzes und schiffte gegen den steinernen Elefanten. Gemeinsam traten sie aus dem »Nachtwächters Schatten«.

13
    Cheng fuhr mit dem Besen über den schwarzen Boden des Bahnsteigs. Die aufgemalten chinesischen Schriftzeichen warben für europäische Textilien und Billigflüge nach Rußland. Aus den Lautsprechern dröhnte ein Strauß-Walzer, Rosen aus dem Süden . Cheng steckte in einem rot-weiß-roten Overall. Obwohl er vollkommen taub war, trug er die vorschriftsmäßigen Ohrenschützer.
    Nicht aus Sicherheitsgründen – was sollte auch sicher daran sein, die einfahrenden Züge nicht zu hören –, sondern aus Werbezwecken, da Österreich dank seines alpinen Images derzeit den Weltmarkt für Ohrenschützer anführte, übrigens kein kleiner Markt. Vor allem nicht in China. Nun, die Schützer lagen groß und weich über Chengs obsoleten Ohrmuscheln. Auf seinem linken Armstumpf war eine Art Staubsauger montiert. Sein rechter Arm, mit dem er den Besen antrieb, schmerzte (die Schraube hatte sich in all den Jahren als Wanderschraube erwiesen).
    Die Untergrundbahn der südchinesischen Stadt Kunming war nagelneu, ein österreichisches Erzeugnis (auch wenn der österreichische Wein gestorben war, der Handel mit U-Bahnen florierte).
    Das gesamte Personal wurde – entsprechend den Verträgen – aus Österreichern rekrutiert, wobei die Reinigungstruppe sich ausschließlich aus Österreichern chinesischer Abstammung zusammensetzte, wiederum eine Bedingung des hiesigen Partners.
     
    Chengs Abstieg war unaufhaltsam gewesen. Nachdem die Hammerschmid wegen des erschossenen Burgschauspielers (genaugenommen, weil sie vergessen hatte, ihre Brille aufzusetzen) ins Gefängnis gewandert war, hatte Cheng keinen einzigen Auftrag mehr erhalten. Er trank mehr, als ihm guttat, wurde kindisch, wehleidig, verschmähte etwa die Hilfe seiner Exfrau, flog aus seiner Büro-Wohnung, fand Unterschlupf in der Absteige des genialen Sonderschülers Berti.
    Zwischenzeitlich hatte sich der Staat derart der Wirtschaft ausgeliefert, daß nur noch die Optimierung der Arbeitgebersituation, die Subventionierung schneidigen, sportiven Unternehmertums und die Befreiung jedweder Spekulation von gesetzlichen und gesellschaftlichen Hemmnissen im Vordergrund standen. Das Sozialsystem war als überholt, geradezu barbarisch, ungerecht, undemokratisch, als Gefährdung des Wirtschaftsstandortes erkannt worden, weshalb man es der Kirche überließ, sich um all die Versager zu kümmern, bloß hatte die Kirche das Geld
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher