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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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beiseite schieben müssen. Wie kam er jetzt bloß darauf? Als er die Augen öffnete, erblickte er als erstes das blutbespritzte, aber nichtsdestoweniger entzückte Gesicht Ernest Bozeks, das über den Überresten Grobfelds thronte. Cheng stand auf und half einer älteren Dame, die eigentlich recht unverletzt aussah, sich dennoch bitter beschwerte. Er sah sich um, aber Maria Baumann war verschwunden.
     
    Der Platzanweiser bemühte sich um eine präzise Darstellung und beschrieb eindringlich die Vorgänge. Er habe genau gesehen, wie die Frau den Strauß warf und der unglückliche Grobfeld ihn auffing und damit in die Luft flog und wie der Arm Grobfelds einen hohen Bogen über die Bühne beschrieb und wie der verzweifelte Bozek über seinem Freund und Kollegen kniete etc. Und er war sich sicher gewesen, daß dieses teuflische Weib in Begleitung dieses Chinesen zur dritten Zugabe gekommen war. Leider war ihm die Attentäterin in dem Chaos, das der Explosion gefolgt war, entkommen, aber diesen Chinesen habe er schnappen können, dank Nahkampfausbildung.
    Der Polizeibeamte bestätigte, was für eine großartige Leistung es sei, einen einarmigen, hinkenden, schwerhörigen Menschen, der gerade dabeigewesen war, einer alten Dame auf die Beine zu helfen, überwältigt zu haben, und entließ den Platzanweiser.
     
    Man führte Cheng herein. Er verlangte sofort nach Straka. Man erklärte ihm, daß der Oberstleutnant mit der Sache nichts zu schaffen habe. Cheng riß sich das Hörgerät, das man ihm nach seiner Verhaftung wieder ins Ohr gesteckt hatte, heraus und kündigte an, jede Kooperation zu verweigern. Der verhörende Beamte zuckte mit den Schultern, murmelte etwas von wegen gölbe Bruat und ließ sich dann mit Straka verbinden.
    »Unverletzt?« fragte Straka, als er eintrat und Cheng die Hand schüttelte. Der Detektiv nickte.
    »Gratuliere. Sie scheinen in letzter Zeit vom Glück verfolgt zu sein.«
    »Das ist schon nicht mehr auszuhalten.«
    »Allerdings verdächtigen meine Kollegen Sie der Mittäterschaft. Das ist natürlich Unsinn, aber um die Herren zu überzeugen, brauchte ich ein paar Einzelheiten.«
    Cheng lieferte nicht bloß ein paar Einzelheiten, sondern die ganze Geschichte, wobei er hin und wieder ins Trudeln kam.
    Zu viele Personen.
    Als er geendet hatte, meinte Straka: »Um Himmels willen« und zündete sich eine Zigarette an. Nicht gerade die erste. Die Luft in dem kleinen Raum schien die Konsistenz von Sauermilch zu haben. Draußen dämmerte es.
    »Mit dem Tod Grobfelds hat die Angelegenheit einen würdigen Abschluß gefunden«, sagte Cheng.
    »Na ja, an Toten mangelt es nicht. Aber die Grimus und die Baumann – wo sind die beiden?«
    »Der einzige Anhaltspunkt ist das Gartenhaus der Baumann. Aber dort werden sie ja wohl kaum sein.«
    »Wir schicken einen Wagen hin.«
    »Es ist vorbei, Straka, Die beiden werden nicht wieder auftauchen.«
    »Möglich.«
     
    Straka benötigte eine halbe Stunde, um seine Kollegen zu überzeugen, daß Cheng sozusagen auf der Seite des Rechts stand, daß er als eine Art freier Mitarbeiter der Polizei fungierte und sich nur deshalb im Konzert befunden hatte, um Grobfeld zu schützen.
    Um ein Attentat zu verhindern, das er bloß geahnt habe. Den Fall an sich ließ Straka unerwähnt. Der Hofrat war zu informieren, und dieser würde die Richtlinien der Rücksichtnahme ausgeben.
    Die Sache war noch immer zweischneidig zu nennen, daran änderte auch nichts, daß die meisten der Akteure sich in der Weltabgeschiedenheit ihrer Gräber befanden.
    Straka bot Cheng an, ihn nach Hause zu fahren, aber Cheng wollte ein wenig durch die Gegend laufen. Sie gaben sich die Hand, und auch wenn sich Cheng zur Verfügung halten mußte, hatte es diesmal etwas Abschließendes.
     
    Die letzten Mondsüchtigen wankten aus den Bars, und die ersten Kontrolleure lungerten in den U-Bahn-Stationen herum. In Bahnhofslokalen trank man sich den nötigen Mut an. Aber die meisten lagen noch in ihren Betten und träumten von blutiger Rache, moderatere Charaktere davon, daß bovistgroße Hautpilze ihre Vorgesetzten befielen. Die Leute an den Abhörgeräten wurden durch ausgeruhte Kollegen ersetzt. Der Himmel war dunkelgrau wie eine Taube auf einem Schwarzweißfoto. Durch ein geschlossenes Fenster brach die frisch geschlüpfte Stimme einer Radiosprecherin – sie frohlockte, als sei soeben der letzte Serbe krepiert. Es begann schon wieder zu schneien. Cheng genoß die kalte, verdreckte Luft. Die ersten Leute, die
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