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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin
Autoren: Colin Falconer
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MADELEINE
    Die Königin des Himmels zwinkerte mit ihren Marmoraugen, stieg von dem Sockel herab und streckte mir ihre weiße Hand entgegen.
    Ich war nicht allein in der Kathedrale. Im Sommer kamen jeden Tag Pilger zur großen Kirche von Saint Gilles, um über den Gebeinen der Heiligen zu beten. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und warf einen Blick auf die anderen Gläubigen, um zu prüfen, ob auch sie dieses Wunder bemerkten. Doch keiner von ihnen hatte seine Augen auf die Statue der Mutter Gottes in ihrer Nische hoch oben in der Wand gerichtet. Einen Moment lang war ich versucht, laut zu rufen, damit es Zeugen für dieses unglaubliche Ereignis gab.
    Aber meine Stimme wurde von Zweifeln erstickt.
    Ich konzentrierte mich auf meine Hände, die im Gebet fest ineinander verschlungen waren, und wartete lange Zeit, ehe ich erneut die Augen hob. Ich sagte mir – und es war in der Tat mein inbrünstiger Wunsch –, dass sie fort sein würde, wenn ich erneut hinsah, zurückgekehrt zu ihrer beruhigenden, gebieterischen Wache über meinem Kopf. Doch als ich es schließlich wagte, den Blick zu heben, war sie immer noch da, und diesmal sprach sie zu mir. Ihre Stimme hallte durch das gewölbte Hauptschiff, süß und klar wie die des Bischofs, wenn er die Messe las.
    Sie sagte, dass ich mit einer besonderen Art des Sehens gesegnet sei und dass man diese Gabe weder leichtfertig gebrauchen noch vernachlässigen dürfe. Sie erklärte mir, ich sei geboren, um zu leiden und die Elevation zu erfahren. Dann berührte sie meinen Kopf mit ihrer Hand, und ich weiß noch, dass ihre Marmorfinger sich ganz warm anfühlten.
    Ich sah mich noch einmal um. Die meisten Pilger trugen Abzeichen auf ihren Mänteln. Sie verdienten also ihren Lebensunterhalt, indem sie den Heiligen huldigten. Aber sie schienen weder etwas gesehen noch gehört zu haben. Plötzlich fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe, und in meinem Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Als ich wieder zu mir kam, war die Jungfrau Maria an ihren Platz zurückgekehrt. Ihre Augen, die ich als leuchtend blau in Erinnerung hatte, blickten leer. Sie waren in Stein gemeißelt und poliert.
    Nachdem ich die Stille der Kirche verlassen hatte und dem Lärm und Gestank von Toulouse entgegenschritt, kam mir der Gedanke, dass ich entweder wahnsinnig sein musste oder jedoch gesegnet war. Schließlich entschied ich – vielleicht eher aus Furcht denn aus Überzeugung –, dass es mir bestimmt war, mein Leben in den Dienst Gottes zu stellen.
    Ich konnte nicht ahnen, dass dieser Entschluss – den man durchaus als hysterische Vision eines jungen, leicht zu beeindruckenden Mädchens bezeichnen kann – mich stattdessen zu Vater Bernard Donadieu und jenem grauenhaften Pogrom führen würde, das die Stadt von Saint-Ybars heimsuchen sollte.

BERNARD
    Es heißt, Eva sei vom Teufel erschaffen worden. In der Heiligen Schrift wird sie als Verführerin bezeichnet, die für den Sündenfall verantwortlich ist. Wie oft hatte ich Predigten darüber gehört? Und dennoch vollzog sich mein eigener Sündenfall mit einer Leichtigkeit, die mich sowohl entsetzte als auch erstaunte. Frauen sind ein notwendiges Übel, wie Augustinus gesagt hat, denn ohne sie kann die Menschheit keine Nachkommenschaft zeugen. Nichtsdestotrotz stehen sie der christlichen Lehre und ihren Idealen im Wege.
    Den Steinmetz trifft keine Schuld. Ich bin davon überzeugt, dass er immer in gutem Glauben gehandelt hat. Er war in seiner Zunft ein angesehener Mann, ein Mann, der die Geschicklichkeit seiner Hände lieber zum Ruhm Gottes einsetzte als für die Häuser, die sich die reichen Bürger und Konsulen in der freien Stadt erbauen ließen. Deshalb fiel die Wahl des Priors auch auf ihn.
    Unser Orden lebte damals in bescheidenen Verhältnissen, in einem Haus, das uns von Peter Seilha gestiftet worden war und das nicht weit vom Château Narbonnais, der Stadtburg von Toulouse, entfernt lag. Wir verbrachten unsere Tage in Demut und Armut, aßen nur wenig und befolgten die Ordensregeln. Wir hatten ein Kapitel, ein Refektorium und eine Kapelle errichtet und predigten zur Ehre Gottes.
    Wegen der geringen Größe unseres Hauses fand die Befragung und Aburteilung von Häretikern im Kloster von Saint Sernin statt. Dennoch waren gewisse Ausbauten in unserem Priorat nötig, für deren Ausführung der Prior einen Meistersteinmetz namens Anselm de Peyrolles unter Vertrag nehmen wollte. Jener wirkte am Bau der Kathedrale des Heiligen Stefan mit und wurde für
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