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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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schienen ihrerseits nicht zu wissen, was sie mit mir anfangen sollten. Nach vier oder fünf unbefriedigenden Begegnungen munterte es mich daher enorm auf, als ich durch die grünlichen Scheiben eines uralten Fensters eine überaus geschickt konstruierte Spieldose in Gestalt eines Kirmeskarussells entdeckte. Die Pferde bewegten sich auf und ab, worauf die Reiter in sehr origineller und lebensechter Manier reagierten, einen Arm hoben oder sich im Sattel seitwärts drehten. Durch eine Tür tretend, die so niedrig war, dass ich mich bücken musste, nahm ich wahr, wie der Uhrmacher selbst aus dem Schatten seiner Werkstatt huschte und dabei noch den Gehrock zuknöpfte. Im Lichte erwies er sich als ein schmächtiger, hellblonder Mann mit blassen Augen, wie sie so weit verbreitet bei jenen sind, die ihre Tage damit zubringen, delikate Maschinen zu untersuchen. Er war nicht mehr jung und machte ganz allgemein den Eindruck, dass er das gesuchte Leben in Einsamkeit gefunden hatte.
    Anfangs ließ sich alles recht vielversprechend an, und er prüfte meine Pläne mit Interesse. Würde er annehmen? Seine Reaktionen waren nicht eindeutig. Doch war er ein Uhrmacher mit einer genialen mechanischen Apparatur im Fenster, und ich legte ihm ein Projekt vor, das seine ganz besonderen Fähigkeiten verlangte.
    »Sie warten«, sagte er auf Englisch. Gott sei Dank, dachte ich, doch sagte er nichts weiter und deutete mit Gesten an, dass er den Laden verlassen werde, wenn auch nicht für lang. Als er hinter sich abschloss, war ich alles andere als pikiert, fühlte mich vielmehr ermutigt.
    Während ich wartete, war ich es zufrieden, mir jenes seltsame Faksimile des Lebens näher anzusehen, so tot und doch so wenig tot, dass den Betrachter eine Gänsehaut überlief. Alle Einzelheiten wollte ich mir für meinen Sohn merken. Es gab da an die zwanzig Reiter, und jeder einzelne musste im Herzen seines Zaubers eine Reihe von Messingstiften in höchst genialer Anordnung aufweisen. Es ist keine Kleinigkeit, diese eigenartig geformten Teile in Bewegung zu versetzen, auch wenn dies beileibe nicht alles ist, muss der Uhrmacher doch ein wahrer Künstler sein, der die Bewegungen einer menschlichen Gestalt beobachtet und dann weiß, welche Stifte er wie formen muss, um ein natürlich wirkendes Abbild zu schaffen.
    Da war ich also, der zweite wahre Freund – hockte, nichts als Knie und Schnauzbart, neben der Tür und musterte glücklich diese wundersame Maschine wie ein schwanzzuckender Kater –, als der Ladenbesitzer zurückkehrte. Hinter ihm kam ein überaus gemütlich aussehender Kerl herein, ein Polizist.
    Er war geholt worden, um zu übersetzen, und begann seine Dienste damit, mir zu versichern, dass ich ein geschätzter Herr sei. Da mir Karlsruhe ein Ort zu sein schien, an dem man ein geschätzter Herr sein musste, war ich zufrieden mit dem, was er sagte.
    Ich erzählte dem Polizisten, dass Monsieur Vaucansons Original nicht länger existierte. Sein Landsmann Goethe hatte es noch gesehen, ob er Goethe kenne?
    »Aber natürlich, Sir, wir sind Deutsche.«
    »Ja«, sagte ich. »Dann wissen Sie vielleicht, dass Goethe die Ente nach Vaucansons Tod gesehen hat. Er sagte, sie habe sich in einem höchst beklagenswerten Zustand befunden. Die Ente sei bis aufs Skelett abgemagert gewesen und hätte Verdauungsprobleme gehabt.«
    Ich vermutete, sie hatten noch nie von Vaucanson gehört.
    Der Polizist sagte: »Ich bringe Sie hin.«
    Was geschah, war nicht ganz klar, nur mied der Uhrmacher jetzt meinen Blick. Und niemand verabschiedete sich von mir, was immer das auch zu bedeuten hatte. Mein Dolmetscher und ich passierten Herrn Fröhlichs schmale, windschiefe Druckerei und bogen in eine Straße mit mittelalterlichen Hausgiebeln ein, dann in eine enge Gasse. Durch eine Tür, die ich nie zuvor benutzt hatte, drängte mich mein Begleiter in meinen Gasthof.
    Was war davon zu halten? Und was blieb mir anderes übrig, als zu warten, während der Polizist meine Pläne nahm und einer gewissen Frau Beck, der spindeldürren Gastwirtin, erklärte, wie die Ente funktionierte. Kaum war dies getan, schlug er die Hacken zusammen und wünschte mir Lebwohl. Erst als er daraufhin meine Verwirrung bemerkte, ging er so weit, mir die Hand zu schütteln, was sich seiner Ansicht nach offenbar für einen Wachtmeister im Umgang mit einem Gentleman geziemte.
    Frau Beck rollte unterdessen meine Pläne zusammen und schüttelte mit überaus ernster Miene den Kopf. Ich dachte nur, der Herrgott
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