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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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stehe ihren Kindern bei, sofern sie denn welche hat.
    »Nein«, sagte sie und wackelte mit dem knochigen Finger. »Nein, Herr Brandling. Das dürfen Sie nicht. Sie zeigen dies auf keinen Fall Herrn Hartmann.«
    »Wer ist Herr Hartmann? Der Uhrmacher?«
    Sie schnalzte auf eine Weise mit der Zunge, als wollte sie andeuten, dass ich mich wohl kaum gründlicher irren konnte. Ich wäre besser daheim in Low Hall und nähme Deutschunterricht.
    »Wer dann?«
    »Dann niemand. Absolut niemand! Sie können von Glück sagen, dass dies alles ist.«
    »Warum?«
    »Sie sind aller Welt aufgefallen«, flüsterte sie. »Warum haben Sie denn auch dem Hauptmann nicht Platz gemacht?«
    Ich war schockiert, dass ganz Karlsruhe jeden meiner Schritte zu kennen schien.
    »Ich muss Sie auffordern, Herr Brandling, sich höflich zu benehmen. Hier, bitte.« Mit diesen Worten reichte sie mir meine zusammengerollten Pläne und wich zur Seite, um mir damit zu verstehen zu geben, dass ich auf mein Zimmer gehen solle. Ich glaube, ich schmunzelte, als ich ihrem Wunsch nachkam, doch war dies kein bisschen lustig, und die Bewohner von Karlsruhe zählten zweifellos nicht zu den angenehmsten Menschen.
    Ich kehrte auf mein Zimmer zurück, warf die Pläne auf die Kommode und mich selbst auf das seltsam deutsche Bett. Gleich darauf kam natürlich das Zimmermädchen, begleitet von einem vielleicht zehn Jahre alten Jungen. An ihm war schroff, was an Percy sanft war, außerdem hatte er blondes Haar und blickte finster drein, doch war er ein Junge im selben Alter und mir schien, ich würde ihn kennen.
    Ich grüßte ihn mit
Guten Tag
und gab ihm einen Pfennig. Wie ich meinen Freund vermisste.
    Die Mutter des Jungen – es konnte sich nur um seine Mutter handeln – legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Gewiss sagte sie ihm, er solle sich bedanken, doch war es die Hand auf der Schulter, die mich rührte.
    »Danke«, sagte der Junge, und als mir auffiel, dass er teilweise gelähmt war, fühlte ich mich plötzlich sehr betroffen. Kindheit ist so grausam.
    Es war gerade mal kurz nach neun Uhr, und ich konnte die erste Mahlzeit des Tages nicht länger aufschieben, die wohl nach der unerschütterlichen Überzeugung zusammengestellt worden war, dass ein Mann sich wie ein Schwein vollstopfen sollte, ehe er das Haus verließ.
    In meinem Wörterbuch fand ich keine Übersetzung für
kippers
.

Catherine
    Mein Vater hatte als Junge die Schrecken des Blitzkrieges mit dem Lesen von Büchern verdrängt. Als man um drei Uhr meinen Geliebten beerdigte, las ich ebenfalls: Dr. Jessica Riskin,
Künstliches Leben, künstliche Intelligenz, circa 1730 – 1950
.
    Stifte in der oberen Walze aktivierten einen Rahmen mit etwa dreißig Hebeln, die mit unterschiedlichen Teilen des Entenskeletts verbunden waren und das Bewegungsrepertoire bestimmten, zu dem Trinken gehörte, Spielen im Wasser mit dem Schnabel, gurgelnde Geräusche, wie sie eine echte Ente von sich gibt, ebenso aufstehen, hinlegen, sich strecken, Hals beugen, mit den Flügeln flattern, dem Schwanz wackeln, gleichfalls mit den größeren Federn …
    Ich las außerdem Abbé Desfontaines, der die Flügel der Ente beschrieb: »Es wurde nicht nur jeder Knochen nachgebaut, sondern auch die Einstülpungen und Vorwölbungen jedes Knochens … die diversen Gelenke: Beugegelenk, Knochenhöhlen sowie die drei Flügelknochen sind deutlich zu erkennen.«
    Hatte Henry auch nur eine Ahnung von Größe und Umfang des seinem Kind versprochenen Objektes gehabt? Der Karlsruher Uhrmacher hatte es bestimmt gewusst – die in der
London Illustrated News
veröffentlichten Pläne waren ja nur die Spitze des Eisberges. Zum schnäbelnden ›Akteur‹ gehörte das Chassis, ein Untergestell etwa von den Ausmaßen einer englischen Telefonzelle. Und das war die Erkenntnis: Eine Telefonzelle passt nicht in eine Teekiste.
    Mit meinem Vater konnte ich nicht mithalten. Nur eine Viertelstunde später hatte ich mich in die Werkstatt zurückgezogen, wo ich Matthews Abwesenheit bis tief ins Knochenmark spürte. Meine Lunge kollabierte. Ich bekam keine Luft mehr.
    Eric Croft stand am Grab mit dem Blackberry in der Tasche. Ich war mir sicher, dass er die Ente für einen Publikumsmagneten hielt, für etwas, mit dem das Kulturministerium zufrieden sein würde.
Aber das Untergestell fehlt, Eric. Die Ente kam ohne ihre Innereien, das Ganze ist sinnlos.
    An: [email protected]
    »Hi, Eric«, schrieb ich, wie Leute das so machen, selbst am
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