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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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traurig sein, wenn dein Papa fortgeht?«, wollte ich wissen.
    »Du solltest nicht traurig sein, Papa«, erwiderte er, und in seinem Stirnrunzeln erkannte ich die Gefahr, dass er begriff, wie erbärmlich es um die Ehe seiner Eltern bestellt war. Ich hatte ihn nie belogen, spielte jetzt aber so sehr den heiteren Clown, dass er, als ich ihm den Kakao eingoss, glaubte, ich könne es kaum erwarten, mit meiner Suche zu beginnen.
    »Hussa!«
, rief er. »Was für ein Abenteuer du erleben wirst.«
    Natürlich fuhr ich erst, nachdem ich umfassend für die Pflege meines Sohnes gesorgt hatte. Das heißt, ich machte meine Sache mit Anstand, auch wenn sich meine Frau, nicht umsonst eine Lyall, keineswegs huldvoll mit ihrem Sieg abfand. Sie weigerte sich zu verstehen, wieso ich, der ich doch so sehr auf Monsieur Vaucansons Erfindung erpicht war, nicht in jenes Land reiste, zu dessen Bürgern Vaucanson zählte – nach Auffassung ihrer neuen Freunde galt es ohne Wenn und Aber, dass die Franzosen den Deutschen in jeder Hinsicht überlegen waren –, nur hatte ich von den Freunden und ihren Ansichten längst genug. Vernünftigerweise wählte ich daher den Schwarzwald südlich von Karlsruhe zu meinem Ziel, war dort doch dereinst die Kuckucksuhr erfunden worden. Tief im Bregtal lagen winzige Höfe versteckt, die – zumindest erfuhr ich dies aus der Enzyklopädie – für alle Welt wie Puppenstübchen auf einem Kinderspielplatz aussahen und offenbar ganz unzugänglich waren, falls man sich denn nicht an Strickleitern von den darüber aufragenden Gipfeln herabließ. Hier lebte der mächtige Menschenschlag der Uhrmacher, bekannt nicht nur für ihre körperliche Kraft, sondern auch für ihre Fingerfertigkeit sowie für den unerwarteten Einfallsreichtum ihres bäuerlichen Verstandes. Hier gab es mehr als genügend Hirnschmalz und flinke Finger, ein wahrhafter Überreichtum, so dass ich für meine Reise auf ein glückliches Ende hoffen durfte.
    In Karlsruhe nahm ich mir ein Zimmer im Gasthaus an der Kaiserstraße, da ich wusste, ich würde einige Zeit brauchen, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Außerdem hatte ich Low Hall in unziemlicher Hast verlassen und benötigte ein wenig Muße, mein lädiertes Herz zu pflegen, mich in Ruhe hinzusetzen und die Lage zu begreifen, in der ich mich befand.
    Zu diesem Zwecke erstand ich ein Notizheft vom Drucker, Herrn Fröhlich, bei dem es sich, den Überlegungen meines Bruders zufolge, um einen Bauern handeln musste, soll heißen, er sprach kein Englisch. Meine Absicht war, aus meiner traurigen Lage ein ›Abenteuer‹ zu machen, bei dem Percy sich als mein steter Partner fühlen sollte. Ich würde ein Tagebuch führen, das mir das Rohmaterial für einen ungebrochenen Strom von Briefen lieferte, die ihn beständig an meine Seite versetzten.
    3
    Es lässt sich wohl nicht behaupten, dass ein gesunder Verstand zu meinem Geburtsrecht gehörte, da es mehrere Tanten gegeben hatte, die in dieser Hinsicht eher Wackelkandidaten gewesen waren, und mein Onkel Edward, ein außergewöhnlicher Athlet, blieb dreißig Jahre im Bett, nachdem er bei Aldeburgh einen jungen Burschen aus der Nordsee gerettet hatte. Doch selbst wenn wir Brandlings auch manchmal den Verstand oder auf der Rennbahn unser Vermögen verloren haben, waren wir doch dafür bekannt – dies ist die andere Seite der Medaille –, dass wir in neun von zehn Fällen das Unmögliche möglich fanden. Das bildete die Grundlage unseres Wohlstandes. Hätte mein alter Herr die Dampfmaschine nicht für sinnvoll gehalten, hätte er nicht alles auf Stephenson gesetzt. Danach war er ruiniert, zumindest behauptete man dies einige Jahre lang. Doch natürlich blieb das Unmögliche möglich, und deshalb gab es heute eine Brandling Eisenbahn und einen Brandling Schienenknoten, und ein Ergebnis dieses Triumphs war, dass er den Konstruktionszeichner beauftragen konnte, jenes außerordentliche Spektakel zu planen, schnelle kleine Züge nämlich, die herrlich anzusehen durch die Glastunnel mitten in Fortnum & Mason’s sausten.
    In diesem Sinne war ich, wenn auch in bescheidenem Maße, ein Brandling.
    Natürlich wusste in Karlsruhe niemand, wer die Brandlings waren oder wie man sie zu behandeln hatte. Jedenfalls hätte kein englischer Soldat auch nur im Traum daran gedacht, mich aufzufordern, die Parkbank zu räumen, damit er sich setzen konnte, und als dies ein Deutscher verlangte, bot mir mein Wörterbuch nicht die geringste Hilfe. Auch die Uhrmacher der Stadt
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