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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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Swinburne.
    Dann informierte ich den Mann, der es wagte, am Grab meines Geliebten zu stehen, dass der Automat in katastrophalem Maße unvollständig sei und dass es, ehe man das Untergestell nicht gefunden habe, völlig sinnlos sei, weitere Kisten auszupacken. Und dann schrieb ich, wohl weil ich noch unter dem Einfluss von Lorazepam stand, dass ich es höchst unangemessen fände, eine trauernde Frau mit der Aufgabe zu betrauen, Leben zu simulieren. Falls er vorgehabt habe, mir Albträume zu bereiten, sei ihm dies durchaus gelungen.
    Ich klickte ›senden‹ und schaltete den Computer aus.
    Verstört vor Kummer und Wut stahl ich dann zwei von Henry Brandlings Notizheften. Was würde geschehen, wenn man mich erwischte? Sollten sie mich lebendig verbrennen, mir doch egal. Ich steckte sie in meine Ausgabe der
Antiquarischen Horologie
und marschierte schnurstracks an der Security vorbei hinaus in Londons Straßen, die sich heute, Ende August, heißer als die Straßen Bangkoks anfühlten.
    Es steht außer Frage, dass Matthews Leichnam in dem Moment zu verwesen begann, in dem ich meine Haustür aufschloss. In der Wohnung war es grässlich, widerlich, heiß und stickig. Ausdünstungen, Alkohol und Zigaretten. Ich riss vorn und hinten sämtliche Fenster auf. Ich sprühte Aveda-Lavendelduft in alle Ecken, steckte mir eine Zigarette an, drückte sie aus, schenkte mir einen Whisky ein und musste würgen. Ich mochte keinen Rotwein, öffnete aber trotzdem eine Flasche von Matthews Bourgueil und roch daran. Dann schloss ich die Fenster wieder, damit mich niemand heulen hörte.
    Seit mein lieber Großvater gestorben war, gehörte mir diese Parterrewohnung. Sie lag in der Kennington Road, schräg gegenüber vom Imperial War Museum. Mir war zu Ohren gekommen, dass man Nordlambeth die ›ungeliebte‹ Ecke Londons nannte, doch habe ich mich hier allein schon wegen des ummauerten Gartens stets glücklich gefühlt, den ich meist für mich hatte, da die wohlhabenden New Labour Wohnungseigner von ›oben‹ oft auf Ibiza weilten.
    In jenen Tagen, als es noch eine Zukunft gab, war der Garten für uns wie verzaubert gewesen. Erst letzte Woche hatten wir im Bett gelegen und eine Fuchsfamilie im Gegenlicht beobachtet, wie sie im ungemähten Gras spielte.
    »Sieh doch, sieh. Still.«
    Die Füchse waren nicht gerade süß. Ihre Erde stank, und sie schleppten Fast-Food-Schachteln und durchgesuppte Pampers auf den Rasen. Wir wussten, wir sollten ›Bert in Putney‹ anrufen, der dann kommen und sie erschießen würde. Natürlich weigerten wir uns.
    Jetzt las ich langsam und konzentriert, richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf das kaum fassliche Rätsel. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass es Henry Brandling ernst war mit dem Wunsch, sein dem Sohn gegebenes Versprechen zu halten. Nur schien er nicht bedacht zu haben, was geschehen würde, wenn die Ente einmal gebaut worden war. Hatte er wirklich erwartet, dass seine Frau sich wieder in ihn verlieben würde? Oder hatte er, ohne es zu wissen, seinem Kummer ein verrücktes Denkmal errichtet, ein Taj Mahal der mechanischen Apparaturen? Oder war ich es, die dies tat?
    Henry Brandling schien mir nicht übermäßig intelligent, aber angesichts der Tatsache, dass einige der unangenehmsten Männer Englands die Universität in Oxford mit Bestnoten absolviert hatten, machte mir dies nichts aus.
    Je mehr ich las, desto mehr trank ich, und je mehr ich trank, desto stärker rührte mich Henry Brandling. Wie mein Geliebter litt er Höllenqualen wegen seines Kindes. Ich begann mir einzureden, er hätte mich vorhergeahnt, hätte mir seine Notizhefte persönlich hinterlassen. Ich trank den Scotch aus, begann den Bourgueil zu trinken. Die Teekisten konnten von mir aus in das dunkle Loch zurückgebracht werden, aus dem Crofty sie hervorgeholt hatte, doch ehe sie meine Werkstatt verließen, wollte ich jedes einzelne Schreibheft an mich nehmen, nach Hause bringen und an einem Ort aufbewahren, an dem sie geliebt und verstanden wurden. Mein Besitzanspruch war so groß wie an dem Tag, als ich zum ersten Mal Fellinis
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sah. Damals wie heute glaubte ich, der einzige Mensch auf Erden zu sein, der verstand, was er sah.

Henry
    Ich hatte Percy im Stich gelassen. Ich hörte ihn nicht weinen, nicht einmal atmen. Daher schlief ich tief und fest und wachte nur allmählich auf, spürte, wie meine Waden die glatten, kühlen Laken streiften. Was für ein lasterhafter Luxus. Als ich nach dem Frühstück auf mein Zimmer
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