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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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zugleich.
    Zwei Kellner kamen (tatsächlich
immédiatement
), um mir weder Omelette noch Bier, sondern eine Ente zu bringen, angerichtet mit Obst, Zimt sowie anderen grauenhaften Zutaten, die eher in einen Kuchen gehörten.
    Der Fremde schaute mich weiter unverwandt an, während er den Arm über die gepolsterte Rückenlehne streckte. Vor ihm lag nichts weiter als ein Buch, in das er zu skizzieren schien. Mir kam der Gedanke, dass er, auch wenn die breiten Schultern den gemeinen Mann verrieten, Anwärter auf die Rolle eines Künstlers war. Womit ich sagen will, dass er eine Art Unverschämtheit an den Tag legte, wie sie diverse Individuen zu beweisen pflegten, die mit uns am Tisch gesessen hatten, als Mr Masini das erste ›Porträt‹ meiner Frau fertigstellte.
    »Sie lassen es sich schmecken«, forderte er.
    Ich gab keine Antwort.
    »Sind Sie der Kerl, der mit seinen Plänen zu Hartmann gegangen ist?«
    Kerl? Meiner Treu. »Ich fürchte, ich kenne keinen Hartmann.«
    »Hartmann, der Uhrmacher«, beharrte er und sprach ein Englisch, als wäre er von einer Cockney-Amme gestillt worden. »Sie haben mit ihm über Ihre Pläne gesprochen. Sie sind doch Mr Brandling, nicht wahr?«
    »Bin ich das?«, erwiderte ich. »Nun, fürwahr.«
    »Hartmann hätte sich vor Schiss fast in die Hosen gemacht.« Eine Zigarre wurde angezündet, und im Licht der Flamme sah ich, wie die Jacke an den Armen spannte.
    »Hartmann ist nicht von hier«, fuhr er fort, »aber was würde es schon machen, wenn er aus Karlsruhe wäre? Die Idioten haben ja keine Ahnung, wer sie selbst sind. Haben eine ganze Weile versucht, Preußen zu sein. Die leben in einem Traum.«
    Ich gab mir größte Mühe mit meinem Essen, was heißt, ich aß so gut wie nichts.
    »Verstehen Sie, wovon ich rede?«, wollte der grobschlächtige Mensch wissen.
    Daheim hätte ich mich getrost blind und taub gestellt. In Karlsruhe wusste ich nicht, wie man sich verhielt.
    »Sie leben in einem Traum«, wiederholte er.
    Also antwortete ich ihm schließlich: »Ich verstehe Sie nicht, Sir.«
    »Dann«, sagte er und erhob sich, »wird es Zeit für mich, mich zu Ihnen zu gesellen.«
    Mit Entsetzen bemerkte ich, wie der Hüne auf mich zukam. Mein Bruder hätte zweifelsohne den Raum verlassen, ich aber, Henry Brandling, hockte da wie ein großes, weißes, englisches Kaninchen und ließ zu, dass der ›Kerl‹ sein Lederbuch neben meinem Essen ablegte. In dem arg mitgenommenen Band steckten zwischen den Seiten zahllose Blätter, allesamt unterschiedlicher Farbe und Größe. Das Ganze hielt ein Lederriemen zusammen.
    Er schrie den Kellner an, da es ihn, wie sich dann herausstellte, nach einem Aschenbecher verlangte. Sobald der Wunsch erfüllt worden war, richtete er sein Augenmerk auf mein Mahl, wobei er nicht einmal daran dachte, sich zuvor an mich zu wenden. Statt ihn zurechtzuweisen, saß ich da wie ein Ölgötze und gestattete ihm, mit dem Griff eines Buttermessers geschickt, beinahe chirurgisch, die einzelnen Zutaten der Soße zu separieren und zu jeder dieser Exzisionen eine Frage zu stellen, allerdings nicht mir, sondern dem Kellner. Schließlich ließ er die Ente abtragen, zumindest schien mir dies eine Konsequenz dessen zu sein, was er gesagt hatte.
    »Und jetzt genehmigen wir uns einen Cognac«, verkündete er.
    Vielleicht, dachte ich, ist er ein ungehobelter Bauer, der zum Hauptmann aufgestiegen ist. Nun, viel Glück mit deinem Cognac, alter Knabe, dachte ich dann.
    »Warum lächeln Sie, Kamerad?«
    »Hier wird nur Bier serviert.«
    Er lächelte, wenn auch nicht unverschämt. »Die leben in einem Traum, Kamerad.«
    Ich zuckte die Achseln. »Sofern es den Cognac betrifft, könnte ich dasselbe von Ihnen behaupten.«
    Nun, da er mir gegenüber saß, konnte kein Zweifel daran bestehen, welch kümmerliches Werk sein Schneider verrichtet hatte. Aber auch wenn die Jacke noch so eng sitzen mochte, hatte sie doch für alles eine Tasche, sogar eine eigens für ein Kartenspiel.
    Er teilte eine Karte mit dem Gesicht nach unten aus. »Wissen Sie, was das ist?«, fragte er. Lächelte er etwa im Schatten seines großen Schnauzbartes?
    Offenbar war ich in die Hände eines Kartenhais gefallen, nur würde ich kein so leichtes Opfer sein, wie es all meine Freunde stets befürchteten. »Falls Sie erwarten, dass ich die Karte umdrehe, dann haben Sie sich getäuscht.«
    »Nein.« Er tippte auf die Rückseite. »Das wollte ich Ihnen zeigen. Das ist der Traum, in dem sie leben.«
    Zum ersten Mal schaute er
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