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PR 2627 – Die letzten Tage der GEMMA FRISIUS

PR 2627 – Die letzten Tage der GEMMA FRISIUS

Titel: PR 2627 – Die letzten Tage der GEMMA FRISIUS
Autoren: Michael Marcus Thurner
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1.
    Ronald Tekener
    14. November 1469 NGZ
     
    »Alles in Ordnung, Ronald?«
    Von allen Besatzungsmitgliedern an Bord der JULES VERNE ist Sichu Dorksteiger die Einzige, die mich bei meinem Vornamen ruft. Fast alle meine Freunde nennen mich Tek; jene, die mich fürchten, hassen und hinter vorgehaltener Hand über mich tuscheln, sagen Smiler zu mir.
    »Es ist alles in Ordnung«, wiederhole ich, obwohl wir beide wissen, dass ich lüge.
    Ich darf mich von der Ator keinesfalls ablenken lassen. Ich muss mich auf meine Pflichten konzentrieren, auf meine verdammten Pflichten. Ich trage Verantwortung für unzählige Terraner und Angehörige anderer Milchstraßenvölker. Man erwartet von mir, dass ich jede Situation mit der notwendigen Nüchternheit analysiere und die richtigen Entscheidungen treffe. Persönliche Anteilnahme am Schicksal Einzelner ist angesichts meiner Pflichten kontraproduktiv.
    Und dennoch ...
    Ich vermag kaum ruhig zu bleiben und nüchtern zu beurteilen, was ich im Zentralholo sehe. Ich fühle Wut in mir, einen der schlechtesten Ratgeber für Strategen.
    Ich blicke auf das Wrack eines Schiffes terranischer Bauweise, kaum noch als Kugelraumer zu erkennen. Mit viel Phantasie kann ich den Schriftzug GEMMA FRISIUS erahnen. Die letzten Buchstaben fehlen; an ihrer Stelle befindet sich ein Loch, so groß, dass ein in einen Raumanzug gepresster Elefant purzelbaumschlagend ins Innere des Schiffes schweben könnte.
    Ich zähle insgesamt acht größere Löcher und unzählige kleine. Es muss im Inneren der GEMMA FRISIUS zu Explosionen gekommen sein. Träger aus Terkonitstahl sind nach außen gebogen; in Gluthitze geschmolzene und in der Kälte des Vakuums wieder gefrorene Metallteile minderer Qualität ragen wie übergroße Knorpel und Knochensplitter aus den Öffnungen.
    Besonders dramatisch sind die Beschädigungen nahe der oberen Polkappe des Schiffs. Durch ein gähnendes Loch von fast hundert Metern Durchmesser blicke ich tief ins Innere. Vorbei an Decks, deren Stützträger abgetrennt oder zusammengepresst worden sind, ins Innere von Hallen, Mannschaftsräumen, Lagerräumen, Erholungsbereichen, Laboratorien. Dies alles meine ich auszumachen; doch ich kann mich irren. Es scheint kaum möglich, all die Trümmer und Teile richtig zuzuordnen.
    Der Schnitt an der Polkappe, der das Schiff ein wenig wie ein geköpftes Frühstücksei wirken lässt, verläuft keinesfalls gerade. Im Zentrum liegt eine Vertiefung von nochmals zwanzig Metern, deren Wölbung auf etwas hindeutet, das einen Gesamtdurchmesser von rund hundertfünfzig Metern gehabt haben muss.
    Es sind 144 Meter, rufe ich mir die exakten Werte in Erinnerung. Ein Etwas, dessen Sinn und Zweck sich mir nicht erschließt, hat sich augenscheinlich in den Polbereich der GEMMA FRISIUS gebohrt.
    Ich fühle wachsende Übelkeit, je länger ich diese seltsame Narbe betrachte. Wurden Menschen zerquetscht, als sich dieses Etwas auf den Forschungsraumer setzte?
    Zur Wut gesellt sich Angst. Eine Emotion, die du dir nicht leisten solltest, alter Mann!
    Mir ist, als blickte ich dem Tod ins Auge. Als erwartete mich dort im Inneren der GEMMA FRISIUS, in der Beinahe-Dunkelheit, die ein wenig von einem merkwürdigen Lichtschimmer durchbrochen wird, ein Monster aus den Albträumen meiner frühesten Jugend.
    Diese Furcht ist anders als bei den meisten Einsätzen, die ich in meinem langen Leben angeführt – und überlebt – habe. Diesmal spüre ich sie ganz tief in mir. Sie ist kreatürlich und greift womöglich auf Instinkte zurück, die bereits meine Urahnen empfunden haben, wenn es am Horizont blitzte und ein Baum in Flammen geriet. Oder wenn es dunkel wurde. Denn in der Dunkelheit können Gefahren nicht wahrgenommen werden. Wir fühlen uns allein. Alleingelassen ...
    Ich mache mir bewusst, dass ich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe. Rings um mich verrichten die Besatzungsmitglieder der Schiffszentrale ihren Dienst. Sie sammeln Informationen, sorgen sich um unsere Sicherheit, sind vorbereitet auf den Gefahrenfall. Sie führen aus, was ich befehle. Ein Zeichen von Schwäche oder auch nur Unsicherheit würde sich augenblicklich auf sie übertragen.
    Ich klopfe mit den Fingern auf das Pult vor mir. Rhythmisch, nicht allzu schnell. Die Geräusche und die Bewegungen geben mir meine Sicherheit zurück. Ich weiß aus Erfahrung, dass meist die winzigsten Gesten von größter Hilfe sind.
    Ich betrachte die Bilder, die eine Vielzahl von Sonden und Drohnen aus der unmittelbaren Nähe der
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